Wir haben dieses Jahr im Buchclub viele großartige Bücher gelesen und ich freue mich jeden Monat wieder nicht nur auf die Lektüre, sondern vor allem auch auf den Austausch mit euch, der in diesem Jahr zum Beispiel zu
„Was fehlt dir“ von Sigrid Nunez besonders intensiv und tiefgehend war. Ich konnte euch einige Lieblinge vorstellen, zuletzt die gesammelten Reisereportagen von Juan Moreno in
„Glück ist kein Ort“. Aber eben längst nicht alle. Zum Jahresende stelle ich euch diesen Monat fünf Lieblinge aus 2021 vor. Falls ihr noch Geschenke sucht, Lektüre für die Feiertage braucht oder einfach gerne mal wieder einen Grund hättet, nicht einschlafen zu können – weil ihr unbedingt ein Buch auslesen müsst.
„Was wir wollen“ von Meg Mason
(Oben abgebildet im englischen Original, „Sorrow and Bliss“)
Eines meiner Lieblingsbücher – nicht nur dieses Jahres, sondern von meiner ewigen Liste.
Erzählt wird die Geschichte von Martha, die mit Anfang 40 am Ende ihrer Ehe steht, obwohl im Grunde alles dafür spricht, dass sie glücklich sein sollte. Doch etwas in ihr scheint sie für Glück unfähig zu machen. Als Teenager explodierte in ihrem Kopf eine Bombe, so beschreibt sie das ominöse mentale Leiden, das ihr das Gefühl gibt, sie habe einfach kein Talent dafür, ein „normaler Mensch“ zu sein.
Auf der Suche nach einer Erklärung erzählt sie rückblickend in kurzen Kapiteln und Anekdoten aus ihrem Leben, von ihrer exzentrischen Familie, ihren romantischen Beziehungen, vor allem der mit ihrem Ehemann, und ihrem unausgesprochenen Kinderwunsch.
„Was wir wollen“ (Ecco, 20 Euro) ist ein unglaublich zärtliches, herzzerreißend trauriges und gleichsam komisches Buch über die Komplexität der Liebe – zwischen Eltern und Kindern, zwischen Schwestern und zwischen Partner*innen. Ich habe mich von diesem Buch gleichzeitig abgeholt und aufgefangen gefühlt. Und es sehr geliebt.
Erschienen ist es im Ecco Verlag, der im Frühjahr 2021 in Hamburg neu gegründet wurde und ausschließlich Bücher von Frauen verlegt, in einer wunderbaren Bandbreite und mit viel Gespür für unterschiedliche Stimmen. Nebenbei: Die Cover von Ecco sind auffallend schön gestaltet, was bei einem Buch zwar nicht entscheidend ist, aber trotzdem erfreut.
Wer mehr von der Autorin hören möchte: Elizabeth Day („How to Fail“) hat sie in
ihrem Podcast interviewt. Es ist ein warmes und reflektiertes Gespräch, bei dem mir einige Male die Tränen kamen.
„Mädchen, Frau Etc.“ von Bernardine Evaristo
(Oben abgebildet im englischen Original, „Girl, Woman, Other“)
„Mädchen, Frau Etc.“ ist ein Buch in zwölf Geschichten. Jedes der rund 40-seitigen Kapitel ist in sich geschlossen und doch sind die Biografien der Menschen, von denen Bernardine Evaristo erzählt, miteinander verstrickt. Die Mühelosigkeit, mit der die Autorin die einzelnen Kapitel zu einem großen Bild zusammensetzt, das die Realität schwarzer Frauen (gay, queer und straight) im früheren und heutigen Großbritannien spiegelt, ist das erste große Kunststück dieses Buchs. Das zweite: Evaristo schreibt ohne Interpunktion. Punkte werden durch Zeilenumbrüche ersetzt, Satzanfänge kleingeschrieben. Diese Form von Prosa macht das Lesen jedoch, anders als ich anfangs gedacht hatte, nicht zu einer Anstrengung. Man fließt stattdessen durch das Buch. Manche der Geschichten bleiben dabei mehr hängen als andere. Was sie alle auszeichnet, sind die tiefe Empathie und das berückende Vermögen der Autorin, sich in andere Leben hineinzudenken. Ein großes Buch.
„Mädchen, Frau Etc.“ ist Evaristos siebter Roman und nachdem die Autorin als erste schwarze Schriftstellerin 2019 mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde, der erste, der ins Deutsche übersetzt wurde. (Tropen Verlag, 25 Euro)
„Töchter“ von Lucy Fricke
Okay, das ist ein wenig geschummelt.
„Töchter“ (rororo, 12 Euro) ist bereits 2019 erschienen, aber ich habe es erst vor kurzem gelesen. Keine Ahnung, wie ich diesen Bestseller bislang verpassen konnte. Darauf gebracht hat mich jedenfalls, dass das Buch jüngst verfilmt wurde, mit Alexandra Maria Lara, Birgit Minichmayr und Josef Bierbichler in den Hauptrollen. Das Drehbuch zum Film, der aktuell noch in den Kinos läuft, hat Fricke zusammen mit der Regisseurin Nana Neul direkt selbst geschrieben. Gut so, denn ihr lakonischer Humor und ihre messerscharfe Beobachtungsgabe zeichnen „Töchter“ aus.
Die Handlung: Marthas Vater ist todkrank und wünscht sich von seiner ihm entfremdeten Tochter, sie möge ihn in die Schweiz zum Sterben begleiten. Die fragt ihre Freundin Betty, ob sie bei dieser letzten Reise das Steuer übernimmt. Was folgt, ist ein Roadtrip, der nicht, wie geplant, in der Schweiz endet, sondern über Italien bis nach Griechenland führt und auf dem die drei unfreiwilligen Reisegefährten die Straße ihrer Leben noch einmal abgehen. Es geht um abwesende Väter, um Lebensmüdigkeit und um das Leben um die 40, mit zwei Heldinnen, die man in all ihrer Ratlosigkeit, Gewitztheit und Tapferkeit sofort ins Herz schließt. Grandios.
„Das Glashotel“ von Emily St. John Mandel
(Oben abgebildet im englischen Original, „The Glass Hotel“)
Die Zusammenfassung hat mich zunächst wenig gereizt: Eine Geschichte, die an Bernard Madoff und den Kollaps des weltweiten Finanzwesens angelehnt ist – das klang nach trockenem Stoff. Doch dann wurde es einem Mitglied in meinem privaten Buchclub so begeistert von ihrer Buchhändlerin empfohlen, dass wir es lasen. Und es packte uns alle: von den ersten Seiten, auf denen man die Hauptfigur Vincent kennenlernt, die in einem Luxushotel an der kanadischen Westküste als Barkeeperin arbeitet und dort auf den mysteriösen Finanzhai Jonathan Alkaitis trifft. Sie begleitet ihn nach New York und wird nicht nur Zeugin, als sein Schneeballsystem zusammenbricht, sondern auch, wie viele andere, Opfer seines monumentalen Betrugs. Die Schicksale begleitet die Autorin in
„Das Glashotel“ (Ullstein Hardcover, 23 Euro) an unterschiedlichen Schauplätzen, von Luxusvillen bis zu Wohnwagen-Siedlungen, von Gefängnissen bis zu Containerschiffen, und sie schnürt die verschiedenen Handlungsstränge zu einem eindringlichen, philosophischen und eleganten Buch, das bewegt und verstört. Ein Meisterwerk, hieß es unter anderem bei dem Sender NPR, und das ist nicht übertrieben.

„Die jüngste Tochter“ von Fatima Daas
„Die jüngste Tochter“ (Claassen, 20 Euro) ist das Debüt von Fatima Daas und das ist schon ein wenig unglaublich, denn ihre Stimme ist so selbstsicher und unverwechselbar, dass man sofort denkt, man habe sie immer schon gekannt. Daas, 1995 in Frankreich als Tochter algerischer Eltern geboren, schreibt auch im Buch als Fatima: die jüngste Tochter algerischer Eltern, eine nicht geplante Nachzüglerin, die im Banlieue und in ihrer Familie als anders auffällt. Unvorhergesehen auch, dass sie sich zu anderen Mädchen hingezogen fühlt. Fatimas Schuldgefühle und Sehnsüchte beschreibt die Autorin in einer literarischen Form, die einem Strudel gleicht:
„Ich heiße Fatima.
Ich trage den Namen einer symbolischen Figur des Islams.
Ich trage einen Namen, den man ehren muss.
Einen Namen, den man nicht „beschmutzen“ darf, wie man bei uns sagt.
Beschmutzen bedeutet bei uns entehren. Wassekh, im algerischen Arabisch.
Im Dialekt sagt man darja, darija.“
Ab diesem ersten Absatz hat mich ihre Art des Erzählens sofort ins Buch gezogen – und nicht mehr losgelassen, bis ich am Ende wieder auftauchte.
Im Januar geht es hier mit neuem Lesestoff im Buchclub weiter.
Bis dahin alles Liebe