Gefühle & Gedanken
Auf die Freiheit
Was tun, wenn das Älterwerden Angst macht? Alexa von Heyden über beruhigende Gedanken.
von Alexa von Heyden - 01.05.2022
Die Audiodatei gibt es hier als Download.
   
Torschlusspanik. Mit diesem Gefühl saß ich vor einiger Zeit im Wartezimmer meiner Kinderwunschärztin. Wollte ich wirklich noch ein zweites Kind, obwohl unsere Familienplanung doch eigentlich als abgeschlossen galt? Florian war dagegen. Ich aber wollte mir selbst beweisen, dass ich es noch „kann“ – also entgegen aller Ratschläge ein Kind bekommen. Trotzdem habe ich die beiden Versuche nicht an die große Glocke gehangen. Wohl aus Selbstschutz. Ich wollte nicht die sein, der gesagt wird: „Was hast du denn erwartet – in deinem Alter?!“
Meine Krankenkasse lehnte die Kostenübernahme ab. Expert*innen empfehlen eine künstliche Befruchtung nur bis 43 Jahre. Danach sind laut Statistiken die Erfolgschancen zu gering. Aber ich sah es nicht ein, dass ich aufgrund meines Alters bestimmte Dinge nicht mehr tun sollte.
Ageism, zu Deutsch Altersdiskriminierung, ist in vielen Bereichen unserer Gesellschaft spürbar. Nicht nur im Gesundheitswesen und Straßenverkehr, sondern auch bei Finanzierungen, wenn die Tilgung länger dauert als die statistische Lebenserwartung, oder auf dem Arbeitsmarkt, wenn es in Stellenanzeigen heißt: „Wir sind ein junges Team.“ Trotz Fachkräftemangel ist es für Menschen teilweise schon ab 50 schwieriger, einen Job zu finden, wie das Institut für Menschenrechte berichtet.

„In Deutschland ist Altersdiskriminierung untersagt, aber trotzdem erleben Betroffene, dass sie unterschätzt und ausgeschlossen werden.“ -

So wie ich bei der Kinderwunschbehandlung.
Um die Arztrechnung zu bezahlen, verkaufte ich eine meiner Lebensversicherungen. Es gibt Firmen, die sich darauf spezialisiert haben, Menschen mit Geldproblemen zu helfen, indem sie deren Geldanlagen samt Steuervorteilen übernehmen und den Rückkaufswert einer Versicherung auszahlen. Kein guter Deal, ich weiß. Aber ich wollte es trotzdem unbedingt. Es ist widersprüchlich: Als Autorin schreibe ich, wie ich mich aus meinem Finanzschlamassel zog. Im nächsten Moment zahle ich 8.000 Euro, um eine Antwort auf die Frage zu finden, was in den nächsten Jahren der Sinn meines Lebens sein könnte. Denn um ehrlich zu sein: Angesichts meines 44. Geburtstages im Mai bekomme ich Schiss. Am liebsten würde ich weglaufen.
Eine Freundin erzählte mir, sie sei Mitte 40 in ein tiefes Loch gefallen. „Ich stehe auf, die Kinder und mein Mann machen ihr Ding. Keiner braucht mich mehr total dringend und in meiner Agentur bin ich sowieso die Älteste“, sagte sie.
Ich ahne nun, was sie bedrückte.
Ich habe einen Einser-Abschluss, eine erfolgreiche Karriere als Autorin und Journalistin, ein gesundes und entzückendes Kind, ich führe eine glückliche Beziehung, wohne in einem eigenen Haus und wache jeden Morgen mit Seeblick auf. Mir ist klar, dass das Leben kein Einkaufszettel ist und ich extrem privilegiert lebe. Aber wie sieht das nächste Kapitel aus, nachdem ich die Aufgaben erledigt habe, welche die Gesellschaft von mir erwartet hat? Was wird in Zukunft „mein Thema“?

„„Sind die reproduktiven Jahre vorbei und unsere Nachkommen aus dem Gröbsten raus, werden wir verzichtbar“,“ -

schreibt Isabel Allende in ihrem Memoire „Was Frauen wollen“. In kurzweiligen Anekdoten beleuchtet die Bestseller-Autorin und Feministin, was es bedeutet, eine Frau zu sein. Sie schreibt über die Frauenbewegung, ihre drei Ehen, Wechseljahre, Sex, Schönheit im Alter und selbstbestimmtes Sterben, aber auch über Schutz vor Gewalt. Es ist ein lesenswertes Buch, in dem ich mir viele Stellen mit Bleistift markiert habe. Etwa diese:
„Dem Patriarchat nützt es, den Menschen Etiketten zu verpassen, damit kann man sie leichter unter Kontrolle bringen. Wir nehmen es, ohne nachzudenken, hin, dass wir nach Geschlecht, Hautfarbe, Alter usw. etikettiert werden.“
Ich suche nach meinen Etiketten: Autorin, Mutter, Hausbesitzerin, Wahlbrandenburgerin, Ü40-Influencerin.
Ü40 – was für ein Mist, denke ich. Das ist doch wieder Altersdiskriminierung! Als wäre eine Ü40-Party ein Restetanzen oder müssten Ü50-Blogger*innen eine eigene Kategorie erfinden, in der sie sich cool anziehen dürfen. Geht’s noch?! Ich beschließe, die Formulierung „Ü irgendwas“ sofort aus meinem Sprachschatz zu verbannen, und werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich noch mitmischen will.
Es ist nämlich so: Mein Körper wird älter, meine Seele nicht. Wenn ich Skateboarder auf der Straße sehe, bekomme ich so wie früher Herzklopfen. Ich teile die Faszination meiner Tochter für Einhörner, weil sie als Krafttiere dafür stehen, sich selbst treu zu bleiben und sich aus Zwängen zu befreien. Ich tanze am liebsten zu Hip-Hop-Musik, trage Vans und besitze drei verschiedene Sorten Glitzerlidschatten.
„Das Alter muss einen nicht davon abhalten, weiterhin entschlossen und kreativ zu sein und Anteil an der Welt zu nehmen“, bestätigt Isabel Allende. Im wahren Leben werden Frauen über 40 jedoch anders behandelt: „Ein kompletter Industriezweig befasst sich mit Anti-Aging, als wäre Altern eine Charakterschwäche“, so Allende.
Auch mein Badezimmer ist voll mit Seren, Peelings und Cremes für „reife“ Haut. Das Kompliment „Du bist über 40? Wow, das hätte ich nicht gedacht!“ höre ich oft und tue so, als würde ich mich freuen. Den Abgrund, den meine Freundin gesehen hat in solchen Momenten, blicke ich geradewegs hinunter.

„Was genau macht mich ausgerechnet jetzt so unsicher?“ -

In ihrem Ratgeber „Why Has Nobody Told Me This Before – Everyday Tools für Life`s Ups & Downs“ vergleicht die britische Psychologin Dr. Julie Smith die menschlichen Gefühle mit dem Wetter. Sie bewegen und verändern sich ständig, manchmal vorhersehbar, manchmal unvorhersehbar. Viele sind angenehm, andere nur schwer auszuhalten. Aber die Medien bläuen uns ein, dass wir 24 Stunden am Tag dankbar, erfüllt und happy sein müssen. Alles Negative muss deswegen sofort eliminiert werden. Wenn das nicht gelingt, fürchten wir schnell, dass wir ein psychisches Problem haben.
Auf Instagram folgen Dr. Julie über 700.000 Menschen, auf TikTok sind es über drei Millionen, weil sie pragmatische Antworten auf dringende Fragen gibt. Etwa: Wie reduziere ich meinen Stress? Was mache ich bei einer Panikattacke? Oder: Wie führe ich ein sinnvolles Leben? Viele Menschen wünschen sich einen Therapieplatz, weil sie sich verloren fühlen, weiß Dr. Julie. Sie wollen „einfach nur glücklich sein“. Die Wahrheit ist: Viele Menschen – egal ob jung oder alt – empfinden trotz immenser Freiheiten nur wenig Glück.
Was läuft schief? Dr. Julie erklärt: Wir glauben, dass wir erst glücklich sind, wenn wir bestimmte Ziele erreicht haben. Wir setzen uns deshalb immer wieder neue private oder berufliche Meilensteine: einen Abschluss als Jahrgangsbeste*r, eine begehrte Führungsposition, die 30-Tage-vegan-Challenge, den*die perfekte*n Partner*in, ein oder mehr Kinder, ein Triathlon-Sieg, ein eigenes Haus, ein prestigereiches Auto oder dank der richtigen Krypto-Assets bald eine Million Euro auf dem Konto. Die Liste ist endlos. Dr. Julie empfiehlt genau deshalb ein radikales Umdenken: Nicht die Ziele, nach denen man strebt, sind das Wichtigste. Sondern die Werte, nach denen man lebt. Also: Wie möchte ich mein Leben leben? Was für ein Mensch möchte ich sein? Für welche Grundsätze stehe ich ein?
Der Benefit an dieser Denkweise ist:

„Wer nach seinen Werten lebt, führt ein erfülltes Leben im Hier und Jetzt.“ -

Ziele dagegen versprechen immer nur das Glück in der Zukunft. Vor allem in Krisensituationen sind es die Werte, die Halt geben und Entscheidungen vereinfachen. „Werte erinnern daran, dass man immer noch auf dem richtigen Weg ist“, so Dr. Julie.
Ein praktisches Beispiel: „Abzunehmen“ ist ein Ziel, das sich viele Menschen Anfang des Jahres immer wieder aufs Neue setzen. Dafür sind gesunde Ernährung und Sport wichtig. Wenn das Ziel abzunehmen aber durch den Wert „Gesundheit“ ersetzt wird, dann sind gesundes Essen und Bewegung etwas, mit dem man sich 365 Tage im Jahr identifiziert. Die Zahl auf der Waage wird endlich das, was sie ist: unwichtig.
Für einen persönlichen Value Check empfiehlt Dr. Julie eine Weile lang aufzuschreiben, was glücklich macht. Nicht nur dankbar, sondern glücklich. Unser Sein manifestiert sich wie gerade beschrieben in Gewohnheiten, in denen wir unsere Werte ausleben. Das Wort „Identität“ setzt sich aus den lateinischen Begriffen „essentitas“ (sein) und „identidem“ (wiederholt) zusammen, also wiederholtes Sein. Einfach gesagt: Wir sind, was wir tun. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch: Leben wir sehr gegensätzlich zu unseren Werten, fühlen wir uns leer, ängstlich oder ziellos.
Also:

Was fühlte sich für mich in den letzten 30 Tagen so richtig, richtig gut an und welche 5 Werte ergeben sich daraus für mich?

1. Nichts macht mir nach fast zweieinhalb Jahren Coronapandemie so viel Spaß, wie Reisepläne zu schmieden. Anna-Lena Koopmann und Cloudy Zakrocki haben mich dazu inspiriert, mehr remote zu arbeiten, sodass ich andauernd Pläne mache, wohin wir als Nächstes reisen. Meine Werte sind deshalb hier: Neugier und Offenheit.
2. Die Sache an sich kotzt mich an, aber das Gefühl danach ist jedes Mal extrem befreiend: Wenn ich meine Steuerbelege für das Quartal sortiere und sehe, was ich mit meinen Anlagen verdient habe, werde ich mit jedem Blatt Papier, das ich abhefte, zufriedener. Daraus ergeben sich die Werte Struktur und Sicherheit.
3. Das Lektorat für mein neues Buch, das im Herbst erscheint, hat begonnen und ich bin so aufgeregt wie lange nicht mehr. Gleichzeitig denke ich über ein neues Projekt nach. Der Wert Kreativität ist wichtig, um meine Persönlichkeit auszudrücken. Produktiv zu sein, fühlt sich einfach gut an.
4. Ich liebe es, im Garten die Beete neu zu bepflanzen, mit meiner Familie Fahrrad zu fahren oder in der Mittagspause auf der Terrasse in der Sonne zu sitzen. Meine Sehnsucht nach Ruhe und Naturverbundenheit sind wichtige Werte, die mir helfen, in stressigen Zeiten meinen Ausgleich nicht zu vernachlässigen.
5. Mit meinem Kind und Flori zu schmusen, die erste richtige Geburtstagsparty meiner Tochter zu planen, mit meiner Familie Kontakt zu halten, mich mit Freund*innen zu verabreden – all diese kleinen Gesten und Aufmerksamkeiten symbolisieren die Werte Familie und Nähe.
Vielleicht habt ihr es auch gemerkt: Mein Alter spielte in dieser Beobachtung kein einziges Mal eine Rolle.
Andere Werte können Freiheit, Harmonie, Wachstum, Wissen, Rücksicht, Loyalität, Austausch, Anerkennung, Vertrauen, Humor oder Erfolg sein. Am besten, man überprüft anhand eines Value Checks regelmäßig, wo man steht, und richtet sich dementsprechend (neu) aus.
Auch Isabel Allende hat mit bald 80 Jahren formuliert, was ihr wichtig ist: „Ich mache nicht mehr so leicht Zugeständnisse, keine High Heels mehr, keine Diäten und keine Geduld mit Idioten. Und ich habe gelernt, Nein zu sagen, wenn mir etwas nicht behagt, und mich deswegen nicht schuldig zu fühlen.“
Damit schließt sich der Kreis zu der Erfahrung, die ich am Anfang des Textes geschildert habe. Sich nicht schuldig zu fühlen für das, was man möchte oder nicht, ist ein unentbehrlicher Wert, wie ich finde. Und zwar unabhängig vom Alter.

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