In meiner Schulzeit habe ich gelernt, dass ein Einzelkind etwas Schlechtes ist. Kinder ohne Geschwister waren für mich in Marken gekleidete Soziopathen: verwöhnt, altklug und einsam, weil sie immer nur mit ihren Eltern in den Urlaub fahren mussten. Ich dagegen war von Kopf bis Fuß in Secondhandklamotten gehüllt, fühlte mich aufgrund meiner Geschwisterbande aber wie ein Power Ranger.
„Heute bin ich genau das, was ich früher so ätzend fand: Die Mutter eines Einzelkindes.“ -
In unserem ersten Elterngespräch in der Kita bin ich deshalb aufgeregt zu den Erziehern gelaufen und bat sie, bei meinem Kind vor allem auf eines zu achten: Dass meine Tochter keine rücksichtslose Göre wird. Denn sie wird ein Einzelkind bleiben. Mein Mann und ich wollen kein zweites Kind.
Eine Mutter in Großbritannien erlebte einen Shitstorm, als sie mit "done at one" (ich übersetze das mit "Eins reicht") eine ähnliche Aussage auf Facebook machte. Kein Geschwisterchen für ihr Kind – ja, geht’s denn noch? Sie sei egoistisch, hieß es in den Kommentaren. Ihre Tochter würde verzogen sein und keine Möglichkeit bekommen sozialen Fähigkeiten zu entwickeln. Und überhaupt: Solle sie eines Tages etwa ganz alleine die Altenpflege und das Begräbnis ihrer Eltern übernehmen? Die Mutter hielt den Anfeindungen beeindruckend schlagfertig stand. Ich dagegen bekam ein schlechtes Gewissen.

Für viele ist es selbstverständlich, dass, wenn man einmal mit den Kindern angefangen hat, sie nach und nach weiter bei einem eintrudeln. Auf einer Party fragte mich letztens ein entfernter Bekannter: "Und, wann kommt Nummer 2?" Als ich erklärte, dass unsere Familie mit drei Personen im Haus vollständig sei, schnappte mein Gegenüber nach Luft. Das Fest fand in einer wohlsituierten Gegend statt, in der die meisten Familien drei bis fünf Kinder haben. Ich hatte den Eindruck, dass Kinder ein Statussymbol sind. Auf uns Frauen liegt damit noch mehr Druck: Wir sollen schön sein, den Haushalt schmeißen, mindestens in Teilzeit arbeiten und dann auch noch fünf Kinder aus uns herauspressen. Ich habe für mich entschlossen: Da mache ich nicht mit.
Die Gründe, ob und wie viele Kinder ein Paar hat, sehe ich inzwischen differenzierter, als in der 5. Klasse. Nach einer Scheidung und Kinderwunschbehandlung weiß ich: Es ist heute nicht mehr selbstverständlich ein Kind zu haben. Früher habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht, ob meine Idee von Familie realisierbar sei. "Normal" ist inzwischen was anderes: Ich kenne immer mehr Paare, die sich – so wie wir vor drei Jahren – in eine Kinderwunschbehandlung begeben müssen, um überhaupt Eltern zu werden.
Zwischen der Leistungsgesellschaft und perfekten Welt auf Instagram ist die Unfruchtbarkeit großes Tabuthema. Dabei ist laut Familienministerium jedes 10. Paar zwischen 25 und 59 Jahren ungewollt kinderlos. Ein noch größeres Tabuthema ist, dass selbst manche Paare trotz IVF, ICSI oder eingefrorener Eizellen nie Kinder bekommen. Es klappt einfach nicht. Wie schmerzhaft die Erfahrung einer fehlgeschlagenen künstlichen Befruchtung oder Fehlgeburt ist, wissen nur die Menschen, die diesen Weg hinter sich haben. So wie Anna Schatz, die
hier bereits über ihren unerfüllten Kinderwunsch geschrieben hat. All diesen Paaren möchte ich in diesem Text die Hand reichen. Ich fühle auch als Mutter mit euch.
Klar, spüre ich manchmal die Sehnsucht nach einem zweiten Kind, vor allem dann, wenn ich sehe, dass meine Tochter so schnell wächst. Noch einmal ein neugeborenes Leben im Arm halten: Ja, das wär`schön. Aber ich will keine weitere Hormonbehandlung machen und mich in dieses Auf und Ab zwischen Bangen und Hoffen begeben. Ich bin ehrlich: Mit 41 Jahren habe ich Angst vor einer Fehlgeburt, Missbildung oder Behinderung. Ich habe gesehen, wie Freundinnen mit niederschmetternden Diagnosen kämpfen mussten, während um die herum alle anderen niedliche Babys bekamen, die zufrieden in der Trage schliefen oder an der Brust nuckelten.
Schwanger zu sein war für mich auch per se kein Zustand, den ich vermisse. Der wachsende Bauch und die ersten Tritte sind beeindruckend, aber die Übelkeit, Wassereinlagerungen und komatösen Müdigkeitsanfälle brauche ich in meinem Alltag als Mutter eines Kleinkindes und selbstständige Journalistin nicht.
„Darf ich so ichbezogen sein? Ich finde ja.“ -
Mein Mann und ich sind uns einig, dass wir unser Glück nicht herausfordern, sondern einfach dankbar sein wollen: für ein gesundes, zauberhaftes, lustiges, fröhliches Mädchen, das bei allen unheimlich beliebt ist. Wir sind froh, dass die 4. IVF bei uns geklappt hat und wir den Alltag heute zu dritt so gut zusammen hinbekommen. Und klar, wird die Kleine von uns verwöhnt. Vor allem mit Liebe.
PS: Ohne Geschwister aufzuwachsen, ist nicht gar so schlimm, wie befürchtet. Das belegen inzwischen mehrere Studien.
Fotos – Sandra Semburg