Gefühle & Gedanken
Nicht alleine
Ein Text über das größte Tabuthema: den Tod – von Alexa von Heyden.
von Alexa von Heyden - 01.02.2022
Die Audiodatei gibt es hier als Download.
   
Schön, dass ihr hier seid. Trotz der Überschrift! Denn eigentlich beschäftigt sich kaum jemand gerne mit dem Tod. Mich eingeschlossen. Uh, oh, ne bloß nicht! Ich klopfe auf Holz, will nicht darüber reden, so als könne sich der Sensenmann von hinten heimlich anschleichen und einen von uns wegschnappen.
Dabei sind Tod und Trauer ein Bestandteil meines Lebens, seitdem ich ein Kind bin. Mein Vater ist tot. Alle meine Großeltern sind tot, meine Tante, meine Schwägerin. Ich bin mit dem Tod aufgewachsen und er begegnet mir immer wieder. Erst gerade, da der Mann meiner Schwester unheilbar krank ist. Die Frage ist nun: Ich habe es geschafft, gegenüber meinem Ex-Mann, meiner Familienplanung, dem früher so verhassten Autofahren und sogar Geld eine versöhnliche, wenn nicht sogar positive Einstellung anzunehmen. Kann mir das auch mit dem Tod gelingen?
Denn:

„Indem wir den Tod lieber ausblenden, drängen wir all jene Menschen an den Rand der Gesellschaft, die mit dem Tod leben müssen.“ -

Weil sie wissen, dass ihr Leben oder das eines geliebten Menschen in absehbarer Zeit vorbei sein wird. „Seit der finalen Diagnose meiden uns viele Freund*innen“, erzählt mir meine Schwester. Nicht nur ihre Patentante meldet sich nicht, auch gute Freund*innen ducken sich weg. Ihnen fehlen die richtigen Worte, sie haben Angst zu stören oder eine falsche Frage zu stellen. Verständlich, dabei gibt es in dieser Situation kein Richtig oder Falsch. Dass ihr Mann so jung und so krank ist, das ist traurig, es ist unfair und kolossal anstrengend für die kleine Familie. Die Machtlosigkeit dem Tod gegenüber ist kaum auszuhalten.
Aber während viele Menschen in so einer Situation von der Bildfläche verschwinden, werden andere erst sichtbar. So wie die Palliativärztin, die meinen Schwager fast jeden Tag zuhause besucht. Ihre Aufgabe ist es nicht, ihn gesund zu machen. Sie wird es nicht mal versuchen. Sie ist dafür da, um ihn beim Sterben zu begleiten. Das Wort „Pallium“ bedeutet „ummantelnd“. Die Ärztin beantwortet alle seine Fragen und verschreibt ihm Medikamente gegen Schmerzen, Übelkeit und Depressionen. Man könnte sagen: Die Ärztin packt Basti in einen kuscheligen Mantel und begleitet ihn auf seinem Weg, von dem keiner weiß, wie lange er noch geht, geschweige denn, wohin er führt.
Ich erinnere mich, als ich die Palliativärztin das erste Mal sah, wie überrascht ich war, dass sie eine fröhliche, lockere und sportliche Frau mit einem großen Rucksack auf dem Rücken und jeder Menge guter Laune war.

„Kann es Zufall sein, dass gerade die Menschen, die jeden Tag mit dem Tod zu tun haben, ganz besondere Erscheinungen sind?“ -

Erinnert euch an Katja Seydel von Lebensnah Bestattung in Berlin. Mit ebenso viel Empathie wie Coolness trägt die ehemalige Werbetexterin dazu bei, dass Beerdigungen keine unpersönlichen und deprimierenden Veranstaltungen sind, sondern so individuell, ausgefallen, schräg, wenn nicht sogar lustig, wie der Mensch war, um den getrauert wird.
Auch Charlotte Wiedemann ist so ein Licht, das angeht, wenn es dunkel wird. Sie ist Journalistin und Death Doula, eine Sterbeamme. Tatsächlich sind Hebammen auch oft dazu ausgebildet, nicht nur süße, rosige Kinder auf die Welt zu holen. „Wir verdrängen gerne, dass Geburten nicht immer gut gehen. Aber viele Hebammen können auch bestatten“, erklärt Charlotte.
Lebensanfang und Lebensende haben für die 38-Jährige viele Gemeinsamkeiten. Die Geburt beginnt mit der traumatischen Erfahrung des Kindes, das den Mutterleib verlässt und durch einen engen Tunnel in eine andere Welt tritt. Es weint, die Eltern, Geschwister und Großeltern freuen sich. Beim Tod ist es andersherum: Der*Die Sterbende findet Frieden, die Familie weint. In beiden Phasen des Lebens brauchen wir Hilfe und Beistand. Es braucht eben nicht nur ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen, sondern auch ein ganzes Dorf, um einen Menschen zu beerdigen und die Angehörigen in ihrer Trauer zu unterstützen.
Charlottes Aufgaben als Sterbeamme sind vielseitig: Sie reichen von der spirituellen Vorbereitung auf den Tod über die Unterstützung bei der Organisation der Beerdigung bis hin zum Waschen des Leichnams.

„Wenn andere nicht mehr können oder wollen, bleibt Charlotte da. Sie tröstet, streichelt die Hand.“ -

Wie kam die gebürtige Bremerin dazu, ausgerechnet diesen Job zu machen? Als Tochter eines Onkologen, eines Arztes, der Krebspatient*innen behandelt, war der Tod schon in Charlottes Kindheit präsent. Sie fühlte sich immer von der dunklen Seite angezogen, schrieb als Modejournalistin über den Designer Alexander McQueen, der in seinen Kollektionen die Vergänglichkeit zitierte, bevor er sich 2001 das Leben nahm.
In der Schwangerschaft mit ihrer zweiten Tochter entwickelte sich bei Charlotte, wie sie selbst sagt, aus dem Interesse eine Obsession. Kurz vor der Entbindung fiel ihr ein Buch („Wo die Toten tanzen: Wie rund um die Welt gestorben und getrauert wird“) über die verschiedenen Sterberiten aus aller Welt in die Hände. Seien es die Verbrennung in Indien oder die digitale Bestattung in Japan: „Es war, als hätte ich die wahre Liebe gefunden“, erzählt sie. „Die Geburt meiner Tochter war krass. Mit dem Beginn eines neuen Lebens habe ich damals begriffen, wie seiden der Faden ist, an dem alles hängt.“
Sie entdeckt in sich das, wonach viele suchen: eine Berufung. Death Doulas sind kein medizinisches Personal, daher gibt es keine vorgeschriebene Ausbildung. Charlotte macht ihre theoretische Ausbildung online. Die Praxis einer Sterbeamme lernt sie durch Besuche in Hospizen und bei Barbara Rolf, Bestatterin, Theologin und Direktorin Bestattungskultur der Ahorn Gruppe, eines der größten Bestattungsunternehmen in Deutschland, bei dem Charlotte inzwischen fest angestellt ist. Auf dem Unternehmensblog „Friedlotse“ schreibt die Death Doula über ihre Erfahrungen bei der Versorgung von Toten, aber auch wie die heutige Bestattungskultur nachhaltige oder queere Beerdigungen unterstützt, Ausstellungen über Sargbeigaben oder Bestattungsrituale in Zeiten von Corona. Man merkt beim Lesen rasch: Es ist nicht immer alles nur schlimm.
In einem Artikel berichtet Charlotte, wie sie das erste Mal eine verstorbene Frau für die Beerdigung „mitversorgt“ hat. Das bedeutet: den Körper waschen, Öffnungen verschließen und ein würdevolles Aussehen für die Beerdigung herstellen. Das geschieht auch dann, wenn es keine Trauerfeier gibt und der Leichnam direkt eingeäschert wird. „Obwohl wir einander noch nie vorher begegnet, vollkommene Fremde sind, säubere ich dieser Frau nun den Intimbereich, wische Körperflüssigkeiten ab, als wäre sie eine meiner kleinen Töchter. Es fühlt sich seltsamerweise nicht abwegig an. Eher finde ich es nachvollziehbar, dass sie in ihrer Situation am anderen Ende des Lebensspektrums genauso auf meine Hilfe angewiesen ist“, erzählt Charlotte in dem Text.
Sie glaubt, dass Frauen diese Aufgabe intuitiv erledigen.

„„Wenn Frauen die Totenfürsorge gemeinsam übernehmen, ist das eine schöne, mächtige und beinahe archaische Erfahrung.““ -

In den USA sind Death Doulas schon präsenter, aber im Zuge des fehlenden Pflegepersonals und der Zunahme von Single-Haushalten werden sie auch hierzulande immer wichtiger werden. Während der Pandemie haben nicht nur viele Menschen ihren Job verloren, sondern durch den Verlust eines Verwandten oder eines*einer Freundes*Freundin Trauer am eigenen Leib erlebt – diese Erfahrungen prägen. Da es auch hier keine fest geregelte Ausbildung gibt, kommen viele als Quereinsteiger*innen und lassen sich von Vorreiter*innen wie Alua Arthur (bei ihr hat auch Charlotte gelernt) oder Diane Button ausbilden.
Ein weiterer Star der amerikanischen #deathpositive Szene ist Caitlin Doughty aus Los Angeles. Sie ist nicht nur Bestatterin, Autorin von Bestseller-Büchern wie „Fragen Sie Ihren Bestatter“ oder dem bereits genannten „Wo die Toten tanzen: Wie rund um die Welt gestorben und getrauert wird“, sondern auch Gründerin der Organisation „The Order of the Good Death“.
Caitlin fordert dazu auf, unsere Einstellung zum Tod zu überdenken, und sagt: „Eine Kultur, die den Tod verleugnet, steht einem guten Tod im Weg.“ Mit radikaler Offenheit beantwortet sie ihren 1,7 Millionen YouTube-Fans alle Fragen zum Thema: Woher weiß ich, dass die Asche in der Urne wirklich die von meiner Mutter ist? Was passiert mit meinen Brustimplantaten, wenn ich verbrannt werde? Kostet eine Beerdigung mehr, wenn ich Plus Size bin? Die Frau kennt keine Tabus, wenn sie sich von einer Expertin den Prozess der Einbalsamierung am eigenen Leib zeigen lässt oder in einen Sarg klettert und den Deckel verschließt.
Da klingt nach Effekthascherei für mehr Likes, aber auch Caitlin Doughty umgibt eine Aura tiefer Weisheit. In ihrem Ted-Talk „Leichen, die mein Leben verändert haben“ erzählt sie: „Jede Leiche hat mir nicht nur meine eigene Sterblichkeit vor Augen geführt, sondern auch die meiner Familie. Als ich klein war, hat sich meine Mutter jeden Tag um mich gekümmert. Wenn sie stirbt, werde ich für sie sorgen.“
Nach diesem Satz muss sie schlucken, dennoch ermutigt uns Caitlin unsere Toten nicht allein zu lassen. Sie berichtet von Angehörigen, die sich durch die Begegnung mit dem Tod nicht nur empowert fühlen, sondern ganz anders trauern.

„„Es entsteht eine großartige Realität, wenn man sich erlaubt, dem Tod näher zu kommen.““ -

Wie das gehen kann, zeigen Alua Arthur und Caitlin Doughty in ihrem Webinar „Mortal“ (dt. „sterblich“), das sie gemeinsam hosten und das Teilnehmer*innen helfen soll, mit ihrer Angst vor dem Tod besser umzugehen. Es ginge nicht darum, die Angst vor dem Tod zu verlieren. Diese Macht habe niemand, so die beiden. Aber nur wer auch Angst hat, kann mutig sein. Und wie!
Teilnehmer*innen berichten anschließend, welchen Einfluss der Kurs auf sie hatte. Die eigenen Ängste zu erkennen, brachte eine Frau dazu, wieder zu daten und sich noch einmal zu verlieben. Eine andere wagte nicht nur einen beruflichen Neustart, sondern versöhnte sich mit Menschen, mit denen sie jahrelang nicht gesprochen hatte. Wieder eine andere schrieb Abschiedsbriefe an ihre Liebsten und legte sie in eine Box.

„„Die Leute glauben immer, dass das Leben schwer wird, wenn man sich mit dem Tod umgibt. Aber das Gegenteil ist der Fall.““ -

„Wenn ich das kalte Bein eines Toten berühre, verorte ich in meinem Körper jedes Mal das Gefühl, dass mein Leben irgendwann vorbei ist. So lange möchte ich nichts aufschieben, sondern meine Gefühle und meine Beziehungen leben“, sagt Charlotte.
Nicht nur selbstbestimmt leben, sondern auch selbstbestimmt sterben: Genau das wünschen sich immer mehr Menschen, die wissen, dass sie nicht mehr viel Zeit haben. Eine Bekannte erzählte mir von einem Mann, der sich keine klassische Trauerfeier wünschte, sondern eine Farewell Party noch zu Lebzeiten machen wollte. Davon hätte er schließlich mehr als von seiner Beerdigung. Für Freund*innen und Verwandte war diese wirklich allerletzte Party mit ihm eine große Herausforderung, aber es war sein letzter Wunsch. Es gab gutes Essen, die Lieblingsmusik des Gastgebers lief. Es wurde viel geweint und noch mehr gelacht.
Sich die eigene Beerdigung vorzustellen, ist ein Tabu. Dabei ist eine Bestattungsvorsorge inklusive einer Sterbegeldversicherung so einfach wie die Altersvorsorge per ETF-Sparplan und mindestens genauso sinnvoll. Denn eines sollten wir nicht vergessen: Der Tod ist ein Teil unseres Lebens.
Auch meinem Schwager ist es wichtig, die Familie zu entlasten, damit sie sich nach seinem Tod auf ihre Trauer statt auf Papierkram oder Geldsorgen konzentrieren kann. So hat er nach seiner finalen Diagnose vorgesorgt und die zentralen Fragen geklärt: In welchem Hospiz er sterben möchte, wie das Begräbnis aussehen soll und auf welchem Friedhof er begraben werden möchte.
Aber nicht nur finanziell, auch emotional sorgt er vor.

„Basti und meine Schwester gehen zum Beispiel jetzt schon gemeinsam auf dem Friedhof spazieren, wo er eines Tages liegen wird. Damit sie später gerne dort hingeht.“ -

Und sich an die gemeinsame Zeit erinnert, wenn er nicht mehr da ist. Mit ihren Kindern haben sie noch einmal mit einer Fotografin wunderschöne Porträts gemacht und uns allen zu Weihnachten einen Kalender mit den Bildern geschenkt. Außerdem hat Basti für seine Töchter das Familienhörbuch aufgenommen. In seiner persönlich eingesprochenen Biografie erzählt er ihnen von sich, liest vor und singt Lieder.
Ich denke immer, wie krass es ist, dass er all das gemacht hat. Und dann wird mir klar: Die Geburt eines Kindes planen und feiern wir von den ersten Ultraschallaufnahmen über die Gender Reveal Party, Baby Shower bis zur Einrichtung des Kinderzimmers – den Tod aber null, so als ginge er uns nichts an. Aus Angst vor negativen Gefühlen überlassen wir ihn fremden Menschen und wollen unsere Liebsten schon gar nicht im Voraus damit belasten. So bleiben wir im Tabu. „Wir geben unsere Toten weg und wissen gar nicht genau, was mit ihnen bis zur Trauerfeier geschieht. So können wir gar nicht herausfinden, wie wir uns angesichts des Todes fühlen“, sagt Charlotte.
Gute Bestatter*innen erkenne man auch daran, dass sie der Familie anbieten, bei der Totenfürsorge ihrer Lieben dabei zu sein. Zu gerne hätte Charlotte rückblickend ihre Großmutter versorgt.
Wer nicht gleich Leichen waschen möchte, kann mit Charlotte erst mal eine Todesmeditation machen. Dabei versucht sie sich in die verschiedenen Phasen des Sterbens zu versetzen. Fragen, die sie dabei stellt, können lauten: Wer steht an meinem Sterbebett? Welche Dinge möchte ich klären?

„Was steht in meinem Nachruf über mich?“ -

„Bei meiner ersten Todesmeditation habe ich zwei Stunden durchgeheult“, erzählt Charlotte. „Ich habe gemerkt, wie viel Dankbarkeit ich gegenüber meiner Familie empfinde und wie unwichtig die meisten Konflikte sind.“
Wenn ich Basti und meine Schwester frage, wie es ihnen geht, dann sagen sie offen: „Es ist anstrengend, wir sind so traurig, aber wir sind innig miteinander.“ Sie bringen die Kinder zu den Schwiegereltern, gehen zusammen ins Kino, schick ins Restaurant essen oder spielen stundenlang Gesellschaftsspiele.
Alles, was jetzt noch möglich ist, das machen sie. Basti träumt davon, mit dem Auto über Istanbul in den Irak und dann bis nach Jerusalem zu reisen. Wir sagen nicht: „Hör auf zu spinnen, du bist todkrank“, sondern gehen mit ihm die Stationen durch und träumen mit ihm. Denn wer sagt, dass diese Reise nicht doch noch möglich ist?
So bringt die Nähe zum Tod vor allem eines: eine Erinnerung daran, wie zerbrechlich unser Dasein und wertvoll die gemeinsame Zeit ist. Irgendwann spricht der Tod ein mächtiges Wort. Aber es ist niemals das Letzte.
Fotos: Juliane Dunkel-Bakx, Angelika Frey, Video: Alua Arthur und Caitlin Doughty

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