Gefühle & Gedanken
Zurück in den Flow
Warum ihre Krise das Beste war, was Alexa passieren konnte – und sie neun neue Tattoos hat.
von Alexa von Heyden - 01.09.2023
Die Audiodatei gibt es hier als Download.
 
Es war dieser Moment bei meiner Book-Launch-Party für mein Buch Mohn und Regen, an dem ich am liebsten angefangen hätte zu heulen: nicht nur, dass meine Mutter an dem Event nicht dabei sein konnte, da sie kurzfristig in die USA fliegen musste, um sich für immer von ihrem Freund zu verabschieden. Es war diese beiläufig gestellte und sicher gar nicht böse gemeinte Frage eines Gastes, die mich aus der Fassung brachte: „Und Alexa, was machst du als Nächstes?“
Beinahe hätte ich mich an meinem Krabben-Häppchen verschluckt. Dann lachte ich laut und knuffte meinen Gesprächspartner in die Seite: „Schau`n mer mal!“ Innerlich dachte ich: „Du Sack, ich habe gerade ein Buch auf den Markt gebracht, an dem ich drei Jahre gearbeitet habe. Als Nächstes mache ich: GAR NICHTS!“
Denn die Wahrheit war: Ich hatte nicht nur ein Buch geschrieben, sondern so wie wir alle eine Pandemie und sorgenreiche Monate mit der Familie hinter mir. Und ich wusste auch: Das dicke Ende aufgrund der Krebserkrankungen meines Schwagers kommt noch. Tagelang dachte ich darüber nach, warum mich diese Frage auf der Party so getroffen hatte. Mir wurde bewusst, warum: Ich war so müde vom ständigen Abliefern: im Job, aber auch zuhause.

„Ich bin immer nur so gut wie mein nächster Text, die nächste Ladung saubere Wäsche oder fristgerechte Steuervorauszahlung.“ -

Eine Freundin und Kollegin brachte meinen Zustand auf den Punkt: leer geschrieben. Ich hatte fertig und wusste nicht, worüber ich mich je noch mal äußern sollte. Da war kein Thema für einen neuen Artikel in meinem Kopf, schon gar nicht ein Thema für ein weiteres Buch. Jemand vom Verlag schlug vor, ich solle es doch mal mit einem Roman versuchen. „Warum nicht gleich einen Düsenjet auseinander- und wieder zusammenbauen?“, dachte ich.
Obwohl ich in den Wochen danach viel darüber lernte, wie ich meine Bedürfnisgläser auffülle, und mir mehr Me Time als je zuvor nahm, war mein Flow futsch.
Flow beschreibt das Gefühl des völligen Aufgehens in einer Tätigkeit. Es ist ein mentaler Zustand, in dem ein Mensch, eingetaucht in einem Gefühl aus Kraft, Fokus und Freude, einer Tätigkeit nachgeht.
Vielleicht kennt ihr dieses Gefühl vom Sport, Malen, Tanzen, Töpfern oder Sex mit dem*der Partner*in, wenn der Körper die Kontrolle übernimmt, ohne dass man noch darüber nachdenkt, wie viel Uhr es ist oder was sonst drum herum passiert.
Im Flow kann man hohe Leistung erbringen und fühlt sich gleichzeitig wohl. Das liegt daran, dass ein kleines Feuerwerk im Körper stattfindet: Der Flow ist der einzige Zustand, in dem die fünf stärksten Neurotransmitter ausgeschüttet werden, die das Hirn produzieren kann: Norepinephrin, Dopamin, Endorphin, Anandamid und Serotonin. Wobei das Anandamid (von Sanskrit Ananda = „Freude“ oder „reines Glück“) besonders interessant ist, weil es als „Glücksmolekül“ gilt.
Bei mir war aber nicht Ananda, sondern Aua angesagt. Denn nicht nur mein Kopf streikte, sondern auch mein Körper. Meine rechte Schulter und der Arm taten plötzlich irre weh, nachdem ich jeden Tag Power-Yoga gemacht hatte, um durch möglichst viele Liegestütze an irgendeine Emotion in mir heranzukommen. „Schleimbeutel- und Bizepssehnenentzündung“ lautete die Diagnose meines Physiotherapeuten. Der Arzt spritzte mir ein Betäubungsmittel und zeigte mir Übungen mit dem Theraband. Ich zog jeden Tag stoisch dreimal in Folge 30-mal an einem gelben Gummiband und dachte, ich werde bekloppt.
Die Frage, die ich mir währenddessen stellte, war: Wie zum Geier bekomme ich meinen Flow zurück? Die Antwort lag nicht darin, einen Roman zu schreiben oder noch mehr Planks zu machen. Meine Krise zeigte mir mit einer Kopfnuss, dass meine geistige Kreativität und körperliche Kraft nicht linear sind.

„Ich musste verstehen, dass ich nicht jeden Tag abliefern kann. Weder beruflich noch privat.“ -

Weil: Eine Marathonläuferin rennt auch nicht jeden Tag 42 Kilometer. Im Gegenteil: Pausen sind ein wichtiger Teil des Trainings.
Der Körper und die Muskeln brauchen Ruhe, um zu wachsen und beim nächsten Mal wieder die volle oder eine noch bessere Leistung erbringen zu können. Erst während der Erholungsphase passt sich der Körper den Belastungen an – nicht, indem man immer weiter und noch härter trainiert. Das gilt auch für die Arbeit. Ich wurde nicht besser, auch wenn ich mich zwingen wollte, jeden Tag einen Text zu schreiben.
Diese Erkenntnis anzunehmen, fiel mir schwer. Denn der Stillstand in meinem Kopf und die Schmerzen in meinem Arm machten mir Angst. Bleibe ich für immer so ideen- und bocklos? Wie verdiene ich dann in Zukunft mein Geld? Dann stellte meine Coachin diese Frage in den Raum: „Was ist, wenn diese Krise das Beste ist, was dir passieren konnte?“ Ich musste wieder lachen und dachte mir: „Bei aller Liebe, was soll der Scheiß denn jetzt?“
Meine Mental-Trainerin blieb bei ihrem Standpunkt und erzählte mir von ihren Fallschirmsprüngen: Da sei nicht die sichere Landung das Schöne, sondern der freie Fall durch die Luft. Fürs Protokoll: Ich würde niemals mit einer kleinen Plastiktüte auf dem Rücken als einziger Lebensversicherung aus einem Flugzeug springen. Aber dann begriff ich, was sie meinte.
Es geht darum, sich in einer Situation zu entspannen, auch wenn sie unbequem ist.
Der Gedanke war komplett anders als meine bisherige Marschrichtung: Denn in den letzten Jahren habe ich mich ja vor allem darauf konzentriert, weniger Hindernisse in meinem Leben zu haben. Weniger finanzielle Sorgen, dafür mehr Budget für die wichtigen Dinge, weniger Hadern mit dem Altern, dafür besserer Schlaf, kein Stress mehr mit Menschen, denen ich nicht helfen kann, glücklich zu werden, dafür mehr Zeit mit Familie und Herzmenschen usw.
Mit 45 weiß ich aber auch längst:

„Es wird immer wieder neue Herausforderungen in meinem Leben geben. Und meine Art, sie zu meistern, macht mich zu dem, wer ich bin.“ -

Ich stellte mich vor den Spiegel und fand: Das muss man sehen! Der Suizid meines Vaters, die Trennung von meinem ersten Mann, meine Kinderwunschbehandlung und mein Mutterwerden: Ich änderte mein Narrativ, ging raus aus der Opferrolle von einer Frau in einer Krise und ließ mir meine Heldinnengeschichten unter die Haut stechen.
Das Ergebnis waren neun Tattoos in weniger als einem Jahr, nicht nur auf dem Bein und Rücken, sondern auch Rippen und Fingern. Mein Mann Flori schüttelte anfangs verständnislos den Kopf, dann aber fing er an, jedes Tattoo so wie ich zu lieben. Weil sie zeigen, wie stark ich bin. Mit jedem Nadelstich wurde mir bewusst, dass ich darauf vertrauen kann, dass ich die Fähigkeiten, die ich brauche, um meine Krisen zu meistern, alle in mir trage.
Ein Tattoo ist signalrot. Es ist ein Herzass als Erinnerung an diese Krise und daran, dass ich immer ein Ass im Ärmel habe: nämlich mich.

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