Gefühle & Gedanken
Ach, deshalb!
Wie viel Feminismus steckt in den aktuellen Wahlprogrammen? Ex-Parteimitglied Ninia LaGrande erklärt’s.
von Ninia „LaGrande“ Binias - 25.08.2021
Die Audiodatei findet ihr am Ende des Textes.
      
Erinnert ihr euch an „Prism is a dancer“ – die peinlich-unangenehme Kategorie beim Neo Magazin Royale, in der Jan Böhmermann Leute aus dem Publikum mit alten Sünden und glanzlosen Momenten ihres Lebens konfrontierte? Gefunden im Netz – denn, und das lernen inzwischen schon kleine Kinder: Das Internet vergisst nie.
Und so vergisst es auch nicht die kurze Phase meines Teenielebens, in der ich mich orientierungs- und offensichtlich meinungslos politisch für meinen Stadtteil engagieren wollte. Weil es in dem – wie man es heute nennt – benachteiligten Stadtteil Braunschweigs kaum sichtbare Politik gab, ging ich zu denen, die ich kannte. Zu den älteren Herren vom Schützenfest, Marktstand und Kneipennachmittag – zur CDU. Ja, es tut mir fast ein bisschen weh, dieses Geständnis hier niederzuschreiben, ich war mal zwei Jahre Mitglied in der CDU. Ehrlicherweise war ich auch bei irgendwelchen komplett albernen Polokragen-Besprechungen der Jungen Union, bin mir aber nicht mehr sicher, ob ich damals auch den Mitgliedsantrag ausgefüllt habe. Ich glaube, das war erst ab zwei Poloshirts übereinander und beide Kragen hochgeklappt erlaubt.
Wenn man also meinen bürgerlichen Namen bei Google eingibt und dann sehr lange blättert, dann findet man das heraus. Denn das Internet vergisst nie und mein Name stand nun mal auf Mitgliedslisten. Damals. Vor mehr als 20 Jahren. 

„Ich hatte mich nicht groß mit den grundsätzlichen Inhalten auseinandergesetzt, ich orientierte mich an meinen Eltern.“ -

Die CDU war in meinem Viertel die einzige Partei, die überhaupt irgendwas zustande brachte in meinen Augen und einer der engagiertesten Mitglieder war Dirk – ein Rollstuhlnutzer. Der Erste, der mir zeigte, dass ich gut schreiben kann und dass das, was ich erreichen wollte, einen Wert hat. Und mit seiner Behinderung der Erste, mit dem ich zusammenarbeitete, der auch anders daherkam als die meisten anderen. Ich hatte Spaß. Ich schrieb für das kleine Mitgliedsblatt, das wir regelmäßig herausbrachten. Ich brachte mich ein – mit neuen, frischen Ideen und meiner Sichtweise als sehr junge, kleinwüchsige Frau. Das wurde alles gerne angenommen, ja, mit der Zeit sogar eingefordert. Zurück bekam ich allerdings: nichts. Als es dann nach eineinhalb Jahren darum ging, wer für den Stadtrat kandidieren sollte – vor 20 Jahren war das Wort Parität zumindest für die Konservativen noch ein gruseliges Märchen –, da spielte ich auf einmal keine Rolle mehr. Wolfgang, Rolf und Günther, sie alle schoben sich unelegant an mir vorbei, ohne einmal in meine Richtung zu schauen. Auch Dirk wurde für seine Arbeit nicht entlohnt – die Sitzungen des Stadtrates waren nämlich nicht barrierefrei. Schade, Dirk! Und da lernte ich das erste Mal, desillusioniert mit meinen 17 Jahren, dass Politik ein Geschäft ist, in dem Frauen – vor allem junge Frauen – zwar gerne als Arbeitskraft, Ideengeberin und hübsch lächelnd auf Fotos ausgenutzt werden, aber selten eine Rolle spielen, wenn es um die richtig wichtigen Sachen geht.
Seitdem bin ich nie wieder Mitglied einer Partei gewesen – und werde es wohl auch nicht sein, wenn ich mir anhöre, was Freund*innen erleben, die sich innerhalb von Parteistrukturen durchsetzen wollen. Der Anteil von Frauen im noch amtierenden Bundestag beträgt 31 Prozent. In der weltweiten Reihenfolge der Interparlamentarischen Union IPU liegt Deutschland damit aktuell auf Platz 50 von 188. – Ruanda, Kuba und die Vereinigten Arabischen Emirate belegen die Spitzenplätze.
In den Länderparlamenten sieht das oft nicht besser aus – im Gegenteil. Mit 43,9 Prozent hat Hamburg den größten Frauenanteil, Mecklenburg-Vorpommern ist mit nur 23,9 Prozent trauriges Schlusslicht. 50 Prozent oder mehr schafft kein einziges Landesparlament. Die Studie „Women in Politics – Local and European Trends“ vom Rat der Gemeinden und Regionen in Europa aus dem Jahr 2019 fand heraus, dass in nur 11,4 Prozent aller deutschen Kommunen eine Frau Bürgermeisterin ist. Um aktiv Parteipolitik zu machen, muss man viel unterwegs sein, abends zu diversen Versammlungen und Treffen gehen und bis spät in die Nacht in den Hinterzimmern und Kneipen dieses Landes Netzwerke knüpfen und Kompromisse ausarbeiten. Ich weiß nicht, wie oft ich mir in den letzten 16 Jahren anhören musste, was denn mein Problem sei. Mit Angela Merkel hätten wir doch jetzt sogar eine Frau als Kanzlerin. Tja, wenn wir uns die genannten Zahlen anschauen – und vor allem die aktuelle Situation der Gleichberechtigung (Gender Pay Gap, Care Gap, Armutsstatistiken, Ehegattensplitting, Steuerregelung für Alleinerziehende und vieles mehr) –, dann komme ich immer nur zu dem alten Sprichwort „Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer“ zurück.

„Umso wichtiger also, im September feministisch(er) zu wählen.“ -

Denn auch, wenn es euch ähnlich geht wie mir – und ihr keine Kraft, Zeit oder Lust habt, euch ins Parteigeschäft zu stürzen, so könnt ihr mit eurer Wahl beeinflussen, welche Inhalte die Politik der Zukunft bestimmen werden. Deshalb habe ich einen Blick in einige Parteiprogramme und das Drumherum geworfen und verrate euch am Ende auch, wer in diesem Jahr meine Stimme bekommen wird und warum. Spoiler: Wolfgang, Rolf und Günther sind es nicht.
Im Wahlprogramm der CDU/CSU findet sich das Wort Feminismus kein einziges Mal. Keine Überraschung, wenn man bedenkt, dass das nordrhein-westfälische Kabinett von Ministerpräsident und Kanzlerkandidat Laschet bei Weitem nicht paritätisch besetzt ist (acht Männer, vier Frauen) und man feministische Ideen und Inhalte auch in den letzten 16 Jahren Regierungsbeteiligung mit der Lupe suchen musste. Wer – und ich kann nach den letzten Wochen kaum glauben, dass das überhaupt noch Leute tun – immer noch Laschet zum Kanzler wählen möchte, der und vor allem die muss auch mit Nathanael Liminski vorliebnehmen. Er ist Chef der NRW-Staatskanzlei und gilt als enger Vertrauter von Laschet. Nicht unwahrscheinlich, dass er ins Kanzleramt umsiedelt, sollte Laschet tatsächlich gewählt werden. Liminski ist ultrakonservativ. Er hat die Gruppe „Generation Benedikt“ mitgegründet, deren Ziel es ist, Deutschland zu „rekatholisieren“. Was das bedeutet? Keine Ehe für alle, keine legalen Schwangerschaftsabbrüche und kein Recht für Ärzt*innen, auf ihrer Website über Abbrüche zu informieren. Familien nur als traditionelles Vater-Mutter-Kinder-Modell. Liminski gehört zum Kreis der sogenannten Lebensschützer – also derjenigen, die regelmäßig gegen Schwangerschaftsabbrüche auf die Straße gehen und das Selbstbestimmungsrecht von Menschen mit Uterus mit Füßen treten. Versteht sich von selbst, dass er geschlechtergerechte Sprache und Sexualaufklärung auch für komplett unnötig, eher für gefährlich hält.
Klar also, dass all diese Themen im Wahlprogramm von CDU/CSU nicht auftauchen. Dafür steht auf Seite 75: „Familienfreundlichkeit ist Markenzeichen einer jeden unionsgeführten Bundesregierung“. Was an Lächerlichkeit kaum zu überbieten ist, wenn wir uns daran erinnern, wie familienfreundlich allein die letzten eineinhalb Jahre Pandemie von der CDU/CSU gemanagt wurden. Natürlich wünscht sich die CDU/CSU mehr Familienfreundlichkeit in Führungspositionen und mehr Frauen in MINT-Berufen – das ist trauriger Mindeststandard und klingt, als seien sie im Jahr 2003 steckengeblieben. Es fehlt an konkreten Maßnahmen und vor allem Einbezug von aktuellen Debatten.
Die SPD hat da schon ein größeres Ideenbuffet anzubieten. Sie fordert Paritätsgesetze in Bundestag, Ländern und Kommunen – und wenn wir auf die vorhin genannten Statistiken gucken, ist das vielleicht keine schlechte Idee. Auch wenn, und das finde ich an dieser Stelle ganz wichtig, nicht alles gut werden wird, nur weil wir die Macht ein bisschen mehr zwischen zwei Geschlechtern aufteilen.

„Parität ist nicht gleich mehr Diversität.“ -

Denn der Anteil von Menschen mit Migrationsgeschichte, Menschen mit Behinderungen und vielen weiteren marginalisierten Gruppen steigt dadurch nur bedingt. Wer eine gerechte Politik für alle will, muss mehr einführen als eine Frauenquote.
Ansonsten möchte die SPD Unternehmen verpflichten, Lohnlücken zu finden, um den Gender Pay Gap auszugleichen. Auch hier fällt das Stichwort MINT-Berufe und Frauen sollen zukünftig leichter an Gründungskapital kommen. Die SPD möchte Frauen mehr vor Gewalt schützen – aber auch hier kann man sich die Frage stellen, warum Frauenhäuser und andere Einrichtungen nicht schon in den letzten Jahren besser finanziert und ausgebaut wurden, wenn die Partei das Problem offensichtlich auf dem Schirm hat. Vermutlich liegt’s wie immer am Koalitionspartner – auf den wird immer gerne alles geschoben, was aus welchen Gründen auch immer versäumt wurde. Gut und wichtig: Die SPD fordert kostenfreie Verhütungsmittel und will die sogenannten Abtreibungsparagraphen 218 und 219 aus dem Strafgesetzbuch streichen (Grüße gehen raus an Nathanael Liminski).
Gewaltenschutz ist auch bei der Partei Die Linke ein großes Thema. Außerdem nimmt die Partei die Debatten der Zeit auf und beschäftigt sich im Wahlprogramm damit, wie Arbeit und Zeit gleichberechtigter verteilt werden können. Schöne Ideen zur Aufwertung von Sorgearbeit, Freistellung bei der Pflege von Angehörigen (allerdings nur sechs Wochen, die im Zweifel nicht ausreichen) und dem Anspruch auf Elterngeld. Neue Arbeitszeitmodelle sollen die Gleichberechtigung fördern – Selbstständige wie ich bleiben dabei aber außen vor. Höherer Mindestlohn, weniger Lohnarbeit, mehr kostenfreie Menstruations- und Verhütungsprodukte und dabei bitte keine sexistische Werbung – so lässt sich das Programm zusammenfassen. Klingt alles fancy. Ob die Arbeitgeber*innen bei den Fantasien mitspielen, wenn es aktuell schon unangenehm wird, wenn das Kind mal zwei Tage fiebert, ist eine andere Frage.
Die Grünen wollen einen Gender-Check für neue Gesetze, mit dem sie prüfen, ob das Gesetz ein Beitrag zu Gleichberechtigung ist. Ihr größter Beitrag in diesem Jahr ist die eigene Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock – die einzige Frau im Rennen. Das kriegt sie in den letzten Wochen auch gründlich genug aufs Brot – oder in die Presse geschmiert.

„Selten habe ich so viel Verzweiflung und Verleumdungsversuche auf Seiten von Männern gesehen, die sich an Geld, Macht und Positionen klammern, wie in diesem Wahlkampf.“ -

Viele Ideen der Grünen ähneln denen der Linken oder SPD – in einigen Fällen etwas detailreicher und vor allem intersektionaler. Außerdem wollen sie das Steuerrecht modernisieren, was aus meiner Sicht längst überfällig ist, wenn wir uns überlegen, dass Alleinerziehende mit Kind in Deutschland fast so hoch besteuert werden wie Singles ohne Kinder. Verheiratete Paare aber dank Ehegattensplitting immer noch beim klassischen Ernährermodell gefördert werden (Grüße gehen raus an all die Männer, deren Frauen Care- und Sorgearbeit leisten, aber nach der Scheidung verzweifelt auf die Rentenpunkte schauen – und an die CDU, die das Ehegattensplitting immer noch für zeitgemäß hält).
Im Wahlprogramm der Grünen habe ich das erste Mal das Gefühl, dass sich ein gewisses Empfinden für Gleichberechtigung durch das ganze Programm zieht. Und dass Gleichberechtigung in diesem Fall mehr bedeutet als strenge 50/50-Aufteilung in Hetero-Familien.
Die FDP macht neoliberale FDP-things und will Frauen auch beim Gründen fördern. Finde ich gut (ich habe ja selbst auch gegründet). Noch besser würde ich es finden, Eltern gesetzlich vor Diskriminierung zu schützen, damit sie – wenn sie das wollen – auch easy in ihren Job zurückkehren können. In den Wissenschaften hätte die FDP gerne eine Quote, in Führungspositionen aber nur eine freiwillige Verpflichtung. Warum man das eine zur Pflicht machen und das andere freiwillig belassen will, verstehe ich nicht, aber ich verstehe die FDP sowieso nur sehr selten. Immerhin wollen auch sie das Transsexuellengesetz abschaffen (Grüße gehen raus an Liminski – schon wieder!), den Paragraphen 219a abschaffen (der das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche regelt) und eine bessere Kita-Betreuung.
Na ja, und die AfD ist auch noch da. Die soll in diesem Text aber keine Aufmerksamkeit bekommen – so wie auf eurem Wahlzettel hoffentlich auch nicht.
Insgesamt also viele gute und wichtige Ideen. Teilweise Forderungen, bei denen ich mich frage, warum sie immer noch in Wahlprogrammen stehen müssen (Schutz vor Gewalt, Quoten, Kinderbetreuung), weil sie dort stehen, seitdem ich Wahlprogramme lese (22 Jahre!). Was mich massiv stört, ist der Gedanke, der viele Wahlprogramme beherrscht, nämlich, dass Gleichberechtigung ein ausschließlich soziales und in manchen Fällen noch wirtschaftliches Thema bleibt. Wo bleiben die Ideen zu einer feministischen Außenpolitik? Einem feministischen Innenministerium? Einer feministischen Bildungspolitik? Die Verknüpfung zwischen Globalisierung, Digitalisierung, Klimapolitik und Gleichberechtigung? Bei all dem bleiben die meisten Programme sehr schwammig.

„Feminismus bedeutet nicht nur, die Arbeit in der eigenen Kleinfamilie gerechter aufzuteilen und am Ende ein bisschen mehr Rente als unsere Mütter zu beziehen.“ -

Er (ha!) bedeutet auch das, aber eben auch so viel mehr. Und entgegen Armin Laschet bin ich der Meinung, dass ein Mann an der Spitze der Bundesregierung nicht in der Lage ist, das alles umzusetzen. Vor allem nicht, wenn schon das persönliche Umfeld und das eigene Programm aufzeigen, dass die Partei Gleichberechtigung in vollem Maße bis heute nicht verstanden hat.
Wenn ich mir die Wahlprogramme und Kandidat*innen vollumfänglich anschaue, bleibe ich immer wieder bei den Grünen und Annalena Baerbock hängen. Allein das Wording des Programms zeigt mir, dass hier vieles richtig gemacht wurde. Nicht alles, und mit Sicherheit gibt es auch hier viele Punkte, die geschärft und verbessert werden könnten, nicht alles also, aber schon sehr vieles. Eine Wahlentscheidung ist immer ein Kompromiss. Annalena Baerbock nehme ich in diesem Fall am ehesten ab, dass sie einen umfänglichen, feministischen Blick auf das große Ganze behält – auch aus eigener Erfahrung als Mutter zweier kleiner Kinder, die in einer Pandemie Familie und politische Karriere organisiert. Meine Wahl steht fest und damit ein Plädoyer an euch, was, wenn ihr bis hierhin durchgehalten habt, vielleicht nicht mehr nötig ist:

„Geht wählen.“ -

Sprecht mit Familie und Freund*innen – diese Wahl ist so unfassbar wichtig und stellt so viele Weichen für die Zukunft, dass wir es uns nicht erlauben können, Stimmen zu verschenken.
Es lohnt sich also, einen Blick in die Wahlprogramme zu werfen, nach bestimmten Stichworten zu suchen und einfach mal zu schauen, wie sich wer in Interviews und vor der Kamera zu inszenieren versucht. Aus meiner Sicht schaffen wir keine gerechte Gesellschaft ohne Geschlechtergerechtigkeit. Und wir schaffen keine gerechte Gesellschaft ohne eine diverse Familien- und Bildungspolitik. Wir schaffen keine gerechte Gesellschaft ohne zukunftsweisende Klimapolitik und ohne feministische Außenpolitik. Und das bedeutet bei Weitem nicht nur, Frauen bei der Karriere zu fördern, sondern auch alle Geschlechter in den Blick zu nehmen und vor allem die mitzunehmen, die von einer Führungsposition in einem großen Unternehmen so weit entfernt sind wie ich von einer Fahrt mit Achterbahnen, in die man erst mit 1,45 m Körpergröße einsteigen darf.
Fotos Bild 1 (Aufmacher): privat Bild 2: Copyright Anna Peschke Bild 3: Copyright Simona Bednarek
    
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