Elternsein & Geburt
Ach, deshalb!
Aber hallo hab ich beim Schwangeren-Yoga eingepinkelt! Ninia wünscht sich mehr ehrlichen Austausch für Eltern.
von Ninia „LaGrande“ Binias - 09.11.2021
Die Audiodatei findet ihr am Ende des Textes.
„Besser das Babyphone mit Kamera!“ „Die Wärmelampe ist unverzichtbar!“ „Isst du da gerade rohen Fisch??!“ Wer schwanger ist, kennt das: Von allen Seiten darf man sich – vor allem als Erstgebärende – vermeintlich liebevoll gemeinte Hinweise für die Zukunft mit Kind anhören. Am liebsten erinnere ich mich immer noch an den Spruch: „Schlaf so viel du kannst, wenn das Kind erstmal da ist, geht gar nichts mehr.“ Ich habe mich jedes Mal, wenn ich den gehört habe, gefühlt wie ein kleiner Rottweiler (nichts gegen Rottweiler!), der zuschnappend zurückbrüllt: „Ich würde gerne schlafen! Aber falls es dir entgangen ist, hier ist ein Bauch! Ich kann nicht mal mehr laufen! Geschweige denn liegen, ohne dass mir alles abgequetscht wird, das für einem tiefen Schlaf zuträglich wäre.“

„Dabei gab und gibt es Dinge, die ich wirklich gern früher gewusst hätte.“ -

Oder über die ich mich schon im Vorfeld hätte austauschen können, um dann nicht so überrascht zu sein, wenn sie mich überrollen. Wohin wir schauen, sehen wir das romantische Bild glücklicher Familien. Angefangen bei glückseligen Geburtsberichten, die mit dem ersehnten Schnappschuss enden, auf dem das Kind auf der erschöpften, aber rundum glücklichen Mutter liegt, der Vater weint und im Hintergrund läuft der gemeinsame Song, weißt du noch?! Weiter über all die Eltern ohne Augenringe, aber dafür mit aufgeräumten Wohnungen und blitzeblanken Küchenarbeitsplatten auf Instagram. Bis hin zu den perfekten Kinder, die aber nun wirklich alles ganz perfekt machen und niemals schreiend in der Öffentlichkeit zusammenbrechen, weil gerade ein Blatt, das vom Winde verweht, kurz über den Asphalt geschwebt ist, den Weg versperrt hat.
Uns werden im Vorfeld so viele romantische Narrative verkauft. Narrative, an die man sich – und dass weiß ich aus eigener Erfahrung – klammert, weil man ja nicht weiß, was auf eine zukommt. Weil man sich Dinge, die man zum ersten Mal machen wird eben nur so vorstellen kann, wie sie einem erzählt werden. Und weil niemand schwangeren Leuten ein Horrorszenario mit auf den Weg geben will. Aber ein bisschen mehr Ehrlichkeit, wäre das vielleicht was?

„Wenn ich von Schwangeren gefragt werde, was sich für mich geändert hat, dann antworte ich „alles“.“ -

Das stimmt natürlich. Aber es gibt der anderen Person nichts mit auf den Weg. Ich sage nicht: „Naja, ich pinkele mich jetzt öfter ein, also denk an deine Liebeskugeln, richtig gutes Training für den Beckenboden.“ Ich sage: „Alles.“ Und bleibe dabei so unkonkret, dass sich niemand, der oder die es selbst noch nicht erlebt hat, eben nicht vorstellen kann, wie es sich anfühlt, wenn man beim Niesen plötzlich inkontinent ist.
Meine romantische Vorstellung vom Elterndasein wurde schon mit der Geburt komplett auf den Kopf gestellt. Nach Not-Kaiserschnitt, Wiederbelebung und zwei Wochen Intensivstation für das Kind hatte ich gefühlstechnisch alles durch, aber wusste immer noch nicht, wie man sich eigentlich nach dem Kraftakt der Wehen fühlt oder was zu einem gemütlichen Wochenbett dazugehört. Als das Kind dann zuhause war, schrie es. Jeden Nachmittag pünktlich ab 16:30 Uhr bis es drei Stunden später komplett erschöpft einschlief. Ich fühlte mich furchtbar und unfähig (und müde, sehr, sehr müde). Es dauerte Wochen bis ich irgendwo las, dass das normal sei. Dass es vorbeigeht. Und man einfach begleiten solle. Bis zu dem Zeitpunkt sind wir beim Osteopathen gewesen, haben Schlafprotokolle geführt, alle möglichen Beruhigsgriffe und naturbasierten Tropfen ausprobiert und nichts, wirklich nichts hatte geholfen. Um mich herum lagen alle Babys immer nur fröhlich herum oder schliefen. Gefühlt war meines das einzige, das mit seinem eigenen Dasein nicht besonders zufrieden zu sein schien. Bis ich begann, darüber zu sprechen und plötzlich von allen Seiten hörte: „So ging es uns auch!“ Oder: „Gott sei Dank, wir sind nicht allein damit!“

„Manchmal geben vor allem Frauen in meiner Instagram-Bubble kleinlaut zu, nicht gerne auf Spielplätze zu gehen.“ -

Als wäre es mutig zu sagen: „Leute, mir geht dieses Angeschubse komplett auf die Nerven!“ Wer macht das schon gerne? Niemand freut sich darüber, den ganzen scheiß Sommer halbe Sandkästen in der Wohnung zu züchten. Aber, weil alle so tun, als sei die Aufopferung an der Schaukel das Beste, was man als Elternteil bieten kann, wundern sie sich dann, dass sie nicht die einzigen sind, die lieber woanders als am Sandkasten sitzen würden. Dass sie nicht die einzigen sind, denen schon bei dem Wort Rollenspiele die Augen in den Hinterkopf rollen. Dass sie nicht die einzigen sind, die sich wundern, dass die Aufteilung der Care Arbeit ganz neue Ausmaße annimmt, sobald man Eltern geworden ist und Verantwortung doch neu jonglieren muss. Dass sie nicht die einzigen sind, die sich im Job als Eltern diskriminiert fühlen. Und dass sie, ganz allgemein, nicht die einzigen sind, bei denen das romantische Bild des Eltern-Daseins zusammenfällt, wie die Burg aus Holzklötzchen, die man gerade – „Schau doch jetzt mal, Mama!“ – mühselig aufgebaut hat.
Und weil ich schon immer gerne nicht nur den Finger, sondern mit Freude auch die ganze Hand in die Wunde gelegt habe, hier meine ganz persönlichen Tipps an Erstgebärende und ihre Partner*innen. Ganz ohne Romantik oder Horror – versprochen!
Also, das mit dem Pinkeln, ne?! Nach jedem Schwangerschaftsyogakurs bin ich – die Beine zusammenklemmend – auf die Toilette geschlichen, um mein Höschen auszutauschen. Ich habe gedacht, irgendwas stimme nicht mit mir. Ich habe nicht einmal gemerkt, wann ich mich eingepinkelt hatte – es war einfach nach der Stunde immer da. Heute weiß ich: Ich war nicht die Einzige. Aber weil ein feuchtes Höschen in dem Zusammenhang nicht zu den Dingen gehört, von denen man in der Umkleide direkt erzählt, wusste ich das lange nicht.

„Heute weiß ich: Beckenbodentraining ist der Shit.“ -

Beim Zähneputzen immer schön so tun, als müsste man das Pipi aufhalten – exzellente Übung. Schon genannt: Liebeskugeln. Und all die anderen Übungen, die ihr schnell finden werdet, wenn ihr euch auf die Suche danach macht. Es lohnt sich. Nicht nur für trockene Höschen. Denn ein guter Beckenboden ist auch zuträglich für die Orgasmusfähigkeit und da muss ich ja wohl keine mehr weiter überzeugen.
In all der Vorfreude solltet ihr euch selbst nicht vergessen. Vor allem nicht euer zukünftiges Ich, das irgendwann mit strähnig-fettigem Haar erschöpft auf dem Sofa hocken und sich fragen wird, wann es eigentlich das letzte Mal für drei Sekunden alleine war. Ich habe etwa drei Jahre gebraucht bis ich auf der Toilette saß und plötzlich überrascht war, weil sonst niemand anders im Raum anwesend war. Nehmt euch Auszeiten vor. Macht euch schon in der Schwangerschaft einen Friseurtermin in der Zeit nach der Geburt. Reserviert euch regelmäßig das Badezimmer für eine kleine Metime. Oder schleicht euch mit einem neuen Buch für eine halbe Stunde ins Café. Was immer euch gut tut, um Kraft zu schöpfen – denn die braucht ihr in jedem Fall.
Und wer passt dann auf das Kind auf? Das leitet mich über zum nächsten Tipp: Baut euch ein Dorf.
Auch, wenn ich mir meine Eltern nicht unbedingt als direkte Nachbarn vorstellen kann, so bin ich trotzdem immer unfassbar neidisch auf die Leute, die mal eben vom Meeting aus telefonieren und sowas sagen wie: „Kannst du ihn fix abholen? Ich komme später rum.“ Der Rest unserer Familie wohnt nicht in der gleichen Stadt, teilweise nicht im gleichen Bundesland wie wir. Deshalb haben wir uns ein Netzwerk aus Unterstützer*innen und Vertrauenspersonen gebaut. Und wenn ich ein Wort wirklich nicht mehr hören kann, dann ist es Fremdbetreuung. Ich habe acht Wochen nach der Geburt meines Kindes wieder angefangen zu arbeiten und seitdem wurde es noch nicht eine Sekunde von Fremden betreut, sondern ausschließlich von liebevollen Menschen, denen ich die Verantwortung gerne für einen gewissen Zeitraum übertrage. Wie auch immer ihr eure berufliche Zukunft plant – sich so früh wie möglich Unterstützung und Betreuungsmöglichkeiten zu suchen, ist vielleicht der wichtigste Tipp von allen. Nicht nur, um wieder arbeiten zu gehen – das wollen ja gar nicht alle – sondern, um die Möglichkeit zu haben für sich zu sein. Und wenn es nur für den schnellen Einkauf ohne Jammerei am Schokoladenregal ist.
Meine Schwiegermutter schenkte uns zur Geburt, dass sie einmal im Monat kommt, um am Wochenende auf das Kind aufzupassen und uns so eine regelmäßige Datenight zu bescheren. Mit Corona-Unterbrechung gehen wir jetzt, seitdem das Kind vier Monate alt ist, monatlich aus. Anfangs haben wir ständig auf das Handy gestarrt und nur über all die süßen Dinge geredet, die das Kind so macht (das Schreien haben wir in den Gesprächen ignoriert), aber nach kurzer Zeit konnten wir uns an diesen Samstagabenden wieder uns selbst und unserer Beziehung widmen. Ohne nur darüber zu sprechen, was als nächstes renoviert oder eingekauft werden muss und wann wer wen von Kindergarten abholen soll.
Ein weiterer Tipp, nur um es gesagt zu haben: Klärt die Finanzen. Beschäftigt euch mit dem Thema Mutterschutz und Elterngeld (vor allem, wenn ihr selbstständig seid – solidarische Grüße!). Wenn ihr zu Zweit seid: Rechnet, wer in Zukunft wie viel zum Haushaltseinkommen beitragen kann. Und findet einen Ausgleich, wenn eine Person lange nicht vorsorgen und in die Rentenkasse einzahlen kann.
Diese Predigt endet mit zwei wichtigen Grundsätzen, die man – schwanger oder nicht – nicht oft genug wiederholen kann:

„Fragt nach Hilfe. Und: Bietet Hilfe an.“ -

Ihr müsst nicht alles schaffen, vor allem nicht alleine. Niemand schafft alles. Ich habe diese Kolumne geschrieben, aber fragt mich mal, wie mein Wohnzimmer dafür aussieht (nein, bitte fragt mich nicht). Sich schwach zu fühlen (oder inkontinent), ist keine Schande. Wer ist schon stark angesichts einer Geburt, wenig Schlaf, Stillhormonen und einer Pandemie? Und rechnet damit, dass all eure Pläne und guten Vorsätze sowieso im Nirgendwo von „Alles nur eine Phase“ verschwinden. Es ist wirklich völlig egal, ob ihr eine Wärmelampe für den Wickeltisch kauft oder nicht. Ja, es ist sogar egal, ob ihr einen Wickeltisch habt oder nicht. Es ist wurscht, welcher der angesagteste Kinderwagen ist. Ob euer Kind mit fünf, sechs, sieben Monaten oder gar nicht krabbelt. Und ob ihr schon wieder eine Trommel Kochwäsche mit euren Unterhosen waschen müsst. Alles komplett egal, wirklich. So lange ihr euch dabei selbst nicht vergesst und Hilfe annehmt. Baut euch euer eigenes Dorf. Und hört nicht auf, über eure Sorgen und Ängste zu sprechen. Denn versprochen: Ihr seid nie die einzigen, denen es so geht.
Und auch, wenn ich jetzt ein paar Leuten die Seifenblasen mit den Vorstellungen zum Elternsein kaputtgemacht oder davongepustet habe – es macht Spaß. Wirklich. Es macht Spaß, neue Freundinnen auf dem verhassten Spielplatz zu finden (und heimlich mit Wein- oder Apfelsaftschorle anzustoßen). Es macht Spaß, beim Schwangerschaftsyoga einfach mal bewusst atmend herumzuliegen (kann man übrigens auch nach der Schwangerschaft noch gut machen). Dann packt man eben zwei frische Höschen ein. Es macht Spaß, mitanzusehen, wie das Kind zu verschiedenen Menschen Vertrauen aufbaut und so viel unterschiedlichen Input bekommen kann. Und selbst übers Geld zu reden, kann Spaß machen – wenn man dabei ehrlich und respektvoll bleibt. Manchmal erinnere ich mich an die Anfangsphase mit meinem Kind und an den Satz, der mich damals das gerettet hat: Beim ersten Kind machen wir alle das zum ersten Mal – das Kind und die Eltern. Also seid ein bisschen nachsichtig zu euch selbst. Verzeiht euch Dinge, verzeiht anderen. Verzeiht mir für die altklugen Tipps – aber sie sind wirklich gut. Ihr werdet sehen.
Die Audiodatei gibt es hier als Download.

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