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Tantra habe ich entdeckt wie fast jeder Mensch: mit schlüpfrigen TV-Reportagen, in denen Gesine und Herbert aus Castrop-Rauxel dabei begleitet werden, sich in Sarongs zu werfen, laut zu atmen und sich gegenseitig beglücken. Obwohl mich der Anblick solcher Beiträge immer irgendwie betroffen machte, blieb dennoch eine Neugier: Was hat es mit dieser alten sexuellen und spirituellen Praktik auf sich? Als ich eine unglückliche Affäre mit einem Yogalehrer hatte und dachte, ich müsste jetzt richtig etwas bieten, kam mir der Geistesblitz: „Okay, jetzt probiere ich es mit Tantra. Ist spirituell und gleichzeitig erotisch. Das wird ihn umhauen.“ Warum ich ihn überhaupt mit Sex an mich fesseln wollte – diese Frage stellte ich mir damals nicht.
Stattdessen bestellte ich mir ein Buch, das versprach, ein umfassendes Kompendium zu sein, und freute mich auf Einblicke in alte, geheime Sextechniken. Machen wir es kurz: Ich war wahnsinnig enttäuscht. Es ging seitenlang nur um Philosophie und Sanskrit-Begriffe, die ich nicht verstand. Mit der Enttäuschung erlosch das Interesse, die Affäre sowieso und Tantra steckte ich in eine „Später vielleicht mal“-Schublade.
Als es mir wieder begegnete, saß ich in einem schicken Yogaraum in Potsdam, um meine zweite Yogalehrerinnen-Ausbildung zu machen. Ich hatte eine gescheiterte Ehe hinter mir, war knapp dem Bankrott entkommen und lebte allein mit zwei kleinen Hunden auf dem Land. Ich hatte reihenweise Affären, die immer nach dem gleichen Muster abliefen und mich am Ende unglücklich zurückließen.
„Irgendwie fühlte ich mich suchend, aber ich wusste gar nicht, wonach ich Ausschau hielt.“ -
Liebe? Freiheit? Ein anderes Berufsleben? Ein anderes Ich? Ich hatte keine Ahnung. Ich wusste nur, ich musste etwas ändern, ich wusste, ich wollte ein anderes Leben leben, war aber immer noch völlig gefangen in meinen Mustern.
Aber zurück nach Potsdam. Da saßen also die zwei Eminenzen des Yoga und erzählten von Tantra, dass die Grundlage des Yogastils Anusara sei. Tantra und Yoga? Passte für mich gar nicht zusammen und selbst die Lehrer*innen schienen sich davor zu drücken und sprachen stattdessen schnell von kaschmirischen Shivaismus. Hört sich ja auch viel eleganter und gebildeter an. Dennoch catchte mich das, was sie erzählten, und dabei ging es nicht um Sex. Stattdessen sprachen sie davon, dass Tantra glaubt, dass alles Energie und alles miteinander verbunden ist und dass Freiheit und Liebe die grundlegende Matrix sind, aus dem alles besteht. Als Frau, die ein sicheres Händchen für unglückliche Beziehungen und allerlei psychische Originalitäten aufweisen konnte, pochte mein Herz, als ich Freiheit und Liebe hörte.
Tantra ließ mich nicht mehr los und ich begann alles zu lesen, zu studieren, was ich in die Finger kriegen konnte. Ich buchte Workshops, meldete mich bei Seminaren an. Die Talks meines ersten Lehrers Dr. Christopher Wallis liefen rauf und runter.
„Ich lernte, dass das ursprüngliche Tantra nichts mit dem zu tun hat, was wir heute damit verbinden.“ -
Diese sexuellen Praktiken gehören zu Neotantra, das erst im 20. Jahrhundert in den USA entstand. Das ursprüngliche Tantra war ein wilder Cocktail aus einer überraschend modernen Philosophie, Sinnlichkeit, energetischen Praktiken und schamanisch anmutenden Ritualen.
Was mich am Anfang besonders fasziniert hat, war das kontinuierliche Hinterfragen der Realität und der Gedanken. Zum ersten Mal beschäftigte ich mich damit zu fragen, warum ich denke, was ich denke. Welche Sichtweise ich auf die Welt und über mich hatte. Und zu reflektieren, wie ich mich selbst immer wieder in ein Korsett aus Erwartungen (anderer und von mir selbst) einschnürte. Dazu muss man wissen, dass ich nach außen hin vielleicht gelassen und selbstbewusst wirkte, aber eine nicht besonders glücklich verlaufene Kindheit und Jugend hatten bei mir zu Zwangsstörungen, dysfunktionalen romantischen Beziehungen, geringem Selbstwert und dem kontinuierlichen Gefühl, dass mich am Ende alle verlassen, geführt – paradoxerweise selbst, wenn ich verließ.

Ich zwang mich dazu, mich hinzusetzen und radikal zu hinterfragen: Warum tue ich, was ich tue? Welche wahre Intention steht dahinter? Beispiel Beziehungen: Ich erkannte, dass ich mich als sexy, freiheitsliebender Hase verkaufte, dabei wollte ich Sicherheit, eine monogame, feste Beziehung und eine echte Verbindung.
„Je mehr ich über mich mehr lernte, umso stärker wurde die Kraft, Veränderungen umzusetzen.“ -
Ich erinnere mich genau, wie ich mit schlotternden Knien und zu einem unmöglichen Zeitpunkt mit meinem damaligen Freund Schluss machte, weil wir einfach von unseren Bedürfnissen überhaupt nicht zusammenpassten. Trotz des gut gemeinten Ratschlages, es lieber zu lassen, ich sei ja schon 43 Jahre. Ich wusste, lieber bin ich bis zum Ende allein, als etwas nur aus Sicherheit oder Bequemlichkeit zu machen und mein Leben nicht vollends zu leben. Genau deswegen hatte ich schon Jahre zuvor meine Ehe beendet.
Tantra schenkte mir aber noch viel mehr:
„Sinnlichkeit, weit über das Sexuelle hinaus.“ -
Eine tiefe Sicherheit. Neugierde aufs Leben. Und es machte mich mit dem Eros der Welt bekannt. Früher war ich ein echter Körperclown: Ich hatte keine Kontrolle über meinen Körper. Ich war so unsportlich, dass ich schon als Jugendliche beim Volleyball zum Allein-gegen-die-Wand-Spielen verdonnert wurde. Heute weiß ich, dass es daran lag, dass ich mir eine innere Schutzkammer aufgebaut hatte.
Tantra änderte es radikal. Es machte mich mit einer Göttin bekannt, die für das erotische und spirituelle Verlangen stand. Ich lernte, die Luft als Energie wahrzunehmen, mich mit dem Gedanken zu bewegen, dass ich Moleküle verschiebe. Meine Praxis bestand daraus, den ganzen Tag immer wieder tief in meine Sinneseindrücke zu versinken: Wie schmeckt eigentlich das Metall des Löffels, bevor ich ihn in Mousse au Chocolat tunke, wie fühlt sich ein Orgasmus an, wenn er verklingt, wie ist das Gefühl der inneren Berührung, wenn sich meine Muskeln geschmeidig bewegen? Alles Fragen, die ich mir stellte und die die Welt bunter drehten. Tja, und dann gab mir all das die Kraft, mich neu zu erfinden.

Ich setzte mich erneut hin und stellte alles infrage. Wie will ich leben, lieben, vögeln, arbeiten und aussehen? Und ich entschloss, auch mit Ü40 all das radikal umzusetzen. Nicht für andere, nicht für einen Mann – einfach für mich. Ich änderte mein Aussehen, erntete viel Kritik, die aber an mir abprallte: Ich fand und finde mich richtig gut, und ja, natürlich nicht immer, aber die meiste Zeit.
Ich wurde mir darüber klar, wie ich Beziehungen führen möchte, was meine Bedürfnisse sind, wie ich kommunizieren und wie ich daten will. Ich begann mir bewusst zu werden, dass nur, weil ich spirituell bin, ich keinen Sex haben muss, bei dem man sich erst stundenlang anschaut und sehr viel streichelt. Das ist wunderschön, aber ich schlafe dabei ein. Meine Sexualität ist wilder, entfesselter, tatsächlich ganz schön porn-like – und das ist okay.
Ich begann auch in meinem PR-Job flexibler zu arbeiten und buchte mir als digitale Nomadin ein Haus in Südfrankreich, nur ein paar Bücher, Laptop, Kleidung und meinen steinalten Chihuahua-Opa Elmo im Gepäck. Und ich verkaufte wenige Wochen später alles, was ich besaß, um zu einer Liebe zu ziehen, die ich dort in Frankreich gefunden hatte; trotz der Warnungen, wir würden uns ja erst ein paar Wochen kennen.
Mit Tantra habe ich so viel gewonnen: eine innere Sicherheit, die mir selbst in schwierigen Zeiten das Vertrauen schenkt, dass ich das alles schaffen kann.
„Ich habe gelernt, nichts loszulassen, aber auch nichts festzuhalten.“ -
Ich habe gelernt, mit meinen Triggern umzugehen und nicht mehr nach ihnen zu handeln. Und ich habe etwas verloren, was mich lange Zeit begleitet hat: die Angst. Angst, dass es auf der anderen Seite der Sicherheit schrecklich wird. Wird es dann nur schön? Nein. Es kann ziemlich ungemütlich werden und dann wieder gleichzeitig berauschend schön. Die Freiheit kann sich wie fallen anfühlen, aber wenn man das Vertrauen wiederfindet, lernt man zu fliegen.
Und ich habe vor allem eins gelernt: Dir kann die Welt gehören. Du musst sie nur wollen.