Bücher, Serien & Unterhaltung
Verlieben in Pandemiezeiten
Julia Becker war gern Single, auch im Lockdown. Doch dann wurde aus einer alten Freundschaft etwas Neues.
von Julia Becker - 01.03.2021
Die Audiodatei findet ihr am Ende des Textes.
       
Es mag höchst merkwürdig klingen, aber ich war im Frühjahrs-Lockdown 2020 die meiste Zeit sehr glücklich. Und das nicht, obwohl ich Single war, sondern genau deswegen. 
Gerade aus einem Auslandsjahr zurückgekehrt, war ich in einem Zimmer zur Zwischenmiete untergekommen. Zwölf Quadratmeter in einer äußerst „seniorigen“ Wohngegend. Aber ich war dankbar, meine Freunde wieder nah zu wissen, gerade in diesen wirren Zeiten – auch wenn ich sie weiterhin nicht live sah. Und: Ich hatte einen neuen Auftrag, der alles, was mich begeisterte, in sich vereinte. Mir fehlte nichts. Ich recherchierte und schrieb Tag und Nacht – ohne jede Störung. Jeden Morgen, wenn ich aufwachte, dachte ich:

„Gott sei Dank ist da niemand, der mit mir über die Pandemie reden will.“ -

Und gegen Abend dachte ich: Wie schön, dass da keiner wartet, bis ich endlich mit der Arbeit fertig bin. Und der am Ende mit mir über die Pandemie reden will. Wären die täglichen Nachrichten nicht so alarmierend gewesen, könnte ich sagen: Es war himmlisch.
Ich spürte zwar eine gewisse Unruhe, aber gleichzeitig war da ein zutiefst beruhigendes Gefühl, das ich gar nicht mehr kannte: Ich hatte Zeit. Und plötzlich auch keine Angst mehr, etwas zu verpassen.
Um nicht ausschließlich zu arbeiten, spielte ich zwischendurch stundenlang Gitarre. Und schrieb mir mit alten Freunden. Unter anderem mit einem, der 400 Kilometer entfernt wohnte und den ich seit zehn Jahren nicht gesehen hatte. Wir schickten uns auf Facebook Memes, dann Musik und immer wieder Fragen. Meistens war es ausgesprochen amüsant. Manchmal tiefsinnig. Es wechselte ganz organisch. Bei den ernsten Themen ging es direkt um das Wesentliche. Wir redeten Tacheles. Vielleicht weil wir uns „nur“ schrieben? Vielleicht weil wir dachten, wir sehen uns sowieso nie wieder und es ist egal, was der andere von einem denkt?
Irgendwann bekam ich täglich eine Zeichnung von einem kleinen Hund und antwortete mit einem Text dazu. Es war eine schöne Art, zu teilen – während ich mich zugegebenermaßen nun doch ab und zu allein fühlte. 
Dann kam der Sommer und Menschen wälzten sich wie freigelassene Tiger gemeinsam glückstrunken auf den Wiesen im Park. So weit wollte ich nicht gehen. Aber ich besuchte meine Eltern – mit Abstand – und traf eine Freundin, die in der Nähe wohnte. Nicht weit entfernt lebte auch mein alter neuer Schreibfreund. Und ich schlug wagemutig einen Kaffee im Freien vor. Er wollte.
Wir trafen uns an einem Platz, der uns beiden aus früheren Zeiten vertraut war. Trotzdem war alles neu. Wir waren ganz vorsichtig miteinander, hörten aufmerksam zu, fragten genau nach. Es war fast wie bei unserem Schreiben. Erst im Zug wurde mir bewusst, dass ich die Rückfahrt um ganze vier Stunden hinausgezögert hatte. Natürlich fragte ich mich kurz, ob da noch mehr sein könnte. Doch das kam mir unsinnig vor. Nein, das fühlte sich nicht an wie der Anfang einer Liebesgeschichte. Außerdem war ich ein glücklicher Single und nicht auf der Suche.
Wir schrieben weiter. Und die Geschichte mit dem kleinen Hund setzte sich fort. Als er mich dann zwei Wochen später besuchen wollte, wurde mir mehr als mulmig zumute. Ich erwischte mich bei dem Gedanken, er könne meine schöne Arbeitsanordnung durcheinanderbringen, vielleicht sogar mein Leben. Warum sollte ein guter Freund das tun? Tja: Er kam und tat das Befürchtete. Plötzlich fühlte sich das nach etwas Großem an, das mich vereinnahmen könnte.

„Das hatte ich so nicht geplant. Das ging gegen mein Singleglück!“ -

Ich stürzte mich in mein nächstes Projekt: einen Roman. Und ausgerechnet eine Liebesgeschichte in Zeiten der Pandemie. Ich hatte sie mit einem guten Freund schon vor Monaten geplant und jetzt wurde es ernst: Der Verlag hatte sein Go für dieses waghalsige, zeitaktuelle Projekt gegeben. Es hat natürlich wenig mit Zufall zu tun, dass meine Protagonistin Jella sich vor ihren eigenen Gefühlen fürchtet und der Mann sie erst mal aus der Ferne bewegt – vor allem mit Nachrichten und Musik. Anfangs ist Jella vor allem eine überdrehte Tischkicker-Kanone, die alle mit ihrer Unabhängigkeit beeindruckt. Mit der Zeit wird aber klar, dass sie auch Untiefen, Ängste und eine sanfte Seite hat. Und mit seiner vorsichtigen Art und ein paar smarten Fragen tippt Lennard genau die an. Und, Überraschung: Das überfordert Jella erst mal ziemlich. Denn sie sucht ja gar nichts Festes …
Dass ich mit meiner eigenen Geschichte damals so überfordert war, hatte wohl zwei Gründe. Einerseits waren meine Erwartungen schwer enttäuscht worden. Bei diesem Mann war die erste Frage nicht, ob mir seine Frisur gefiel. Und meine Gefühle waren nicht von einem durch körperliche Nähe getriggerten Hormonhaushalt manipuliert worden. Ich hatte erst mal einen Menschen kennen und schätzen gelernt. Und dann erst einen Mann gesehen. Das war schlicht und ergreifend deshalb verwirrend, weil ich das so nicht kannte. Meine bisherigen Dating-Erfahrungen hatten immer auch mit oberflächlichen Fragen zu tun gehabt. Nicht zuletzt mit der Unsicherheit, ob „er mich gut findet“ (bevor ich ihn überhaupt gut finden konnte!). Meine Dates hatten sich oft angefühlt wie Vorstellungsgespräche mit Alkohol – bei denen man versucht, supereasy und gleichzeitig megatough zu wirken – also total daneben. Und weil es mit diesem Mann kein Geplänkel gab und kein Drumherumreden, kam mir das Ganze nicht wie ein „Liebesspiel“ vor.
Der andere Grund meiner Unsicherheit lag tatsächlich in der Pandemie. Obwohl ich genau wusste, mir war es in den letzten Monaten so gut gegangen wie lange nicht, befürchtete ich auf einmal, dass ich mich nur aufgrund einer weltweiten Krise an jemanden band. Wirkte die Pandemie nicht wie eine Lupe? Vergrößerte die Krise vielleicht auch die Schönheit eines Augenblicks, das Gefühl von Verbundenheit, die Anzahl an Gemeinsamkeiten? Waren wir in Wahrheit gar nicht kompatibel? Und würden wir womöglich am „Morgen danach“ ernüchtert aufwachen und erkennen: Wir hatten uns im Angesicht der Angst an den Falschen geschmiegt?
Auf keinen Fall wollte ich panikblind in eine Beziehung stolpern, die in Wahrheit nur eine Notgemeinschaft war, in der sich zwei Menschen aus purer Furcht vor dem Alleinsterben aneinanderklammerten. 
Tja, ein Dilemma. Und es löste sich erst auf, als ich eines Morgens wieder aufwachte und dachte: Gut dass da niemand ist, der mit mir über Corona reden will. In diesem Moment merkte ich: Ich hatte „mein Leben“ gar nicht aufgegeben. Ich hatte weiterhin mein Reich (inzwischen 52 Quadratmeter), meine Arbeit, meine Freiheit – und er seine. Es war nur etwas dazugekommen: ein Wir. Nebenbei stellte ich fest, dass er fast nie mit mir über die Pandemie reden wollte. Die wichtigste Erkenntnis aber war: Ich habe gar keine panische Angst, allein zu sterben (ich glaube, das passiert ohnehin und ist in Ordnung) und ich habe auch keine pandemische Schizophrenie, in der ich meinen eigenen Empfindungen nicht mehr trauen kann. Ich war nur ziemlich lange Single gewesen und hatte ein merkwürdiges Bild vom Anbandeln entwickelt, bevor ich mich tatsächlich heftig verliebt hatte. Mit so etwas hatte ich einfach nicht gerechnet. 
Ich hoffe, dass dieser Mann mir noch bei vielen Büchern unbemerkt zwischen die Zeilen springt und wir vielleicht irgendwann ganz absichtsvoll gemeinsam einen Bildband veröffentlichen, in dem sich ein kleiner Hund große Gedanken macht.
         
Die Audiodatei gibt es hier als Download.
               
Das von Julia im Text erwähnte Buch, das sie mitgeschrieben hat,heißt Mit Abstand verliebt“ und ist eine Geschichte über die Liebe in Zeiten von Corona. Hinter dem Pseudonym Juli Rothmund stecken tatsächlich zwei: Julia Becker und Roland Rödermund, die aus den beiden Perspektiven der Protagonisten schrieben. Das Buch wurde am Ende tatsächlich weniger fiktiv, als die Autorin zunächst dachte. 
Fotos: Freya Najade
Zeichnung: Mario G. Brucculeri
Fotos: Freya NajadeZeichnung: Mario G. Brucculeri

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