Gefühle & Gedanken
Was erwartest du?!
Warum ich für weniger Erwartungen und mehr Pandemiepuffer bin.
von Stefanie Luxat - 01.10.2020
Mein Vater wünschte sich, dass ich richtig gut Klavier spielen lerne. Seine Mutter spielte Klavier. Ich weiß, ich weiß, ich weiß. Sie konnte sich einfach irgendwo an ein Piano setzen, kurz etwas Beeindruckendes spielen und wow, damit war sie der Star. Nicht nur für meinen Vater. Das wünschte er sich wohl auch für mich. Also zwang er mich regelrecht eine Zeit lang, es zu lernen. Ich wollte damals wenig weniger als das. Er gab nicht auf. Also fand ich irgendwann einen guten Deal mit meinem Klavierlehrer: Ich gab ihm das Geld und wir setzten uns einfach auf seine Couch, statt zu üben, und sprachen übers Leben. Das gefiel mir so viel mehr. Ich weiß noch, wie mir bei einem unserer Gespräche seine roten Samtvorhänge auffielen und ich beschloss: Ohne die macht mein weiteres Leben keinen Sinn. Das sah er glücklicherweise nach mehreren Gesprächen auch ein. Ich liebte die roten Samtvorhänge wirklich sehr lange, sie zogen aus meinem Kinderzimmer mit mir in meine erste eigene Wohnung und sahen dabei zu, wie ich mir mein eigenes Leben zurechtbastelte. So stellte ich schon damals auf der Couch meines Klavierlehrers fest: Manchmal entkommt man den Erwartungen anderer an einen selbst nicht. Aber das heißt nicht, dass man sie erfüllen muss. Zumindest nicht für immer.
Vor kurzem saß ich auf einem Ladys-Dinner mit mehreren Frauen an einem Tisch, die darüber sprachen, welche Erwartungen ihre (Ex-)Männer an sie stellten. Dass sie sich nie einfach so geliebt gefühlt hätten, sondern ihre Partner eine bestimmte Rolle von ihnen erwarten würden. Es Ansprüche an sie gäbe. Mach mir den Haushalt, kümmere dich um die Kinder.

„Sei so, wie ich es gern hätte. Sonst lieb ich dich nicht. Bekommst du von mir nicht, was du willst.“ -

Das erinnerte mich an die Zeit, bevor ich meinen heutigen Mann, genau, den Anwalt, kennenlernte. Damit war dann Schluss. Bei ihm habe ich in den vergangenen 13 Jahren keine einzige Sekunde das Gefühl gehabt, dass er mich nicht exakt so liebt, wie ich nun mal bin. Nicht mal, als er im Hotel wohnte während unserer ersten Krise. Bevor ich meinen Mann traf, dachte ich ebenfalls, dass ich erst beweisen müsste, dass ich liebenswert sei. Ich dachte, ich müsste die Erwartungen der Männer erfüllen. Dann würde alles gut werden. So hüpfte ich schon mit 16 zu Cindy Crawfords Fitness-DVD durchs Wohnzimmer meiner Eltern, wohl wissend, dass ich niemals so fit werden würde wie sie. Ich schraubte mich hoch auf Highheels, obwohl mir der Rücken schmerzte. Ich blas meinen Freunden einen und kam gar nicht auf die Idee, dass es das gleiche Vergnügen auch für Frauen gab. Das schien sich bis in unser Dorf (noch) nicht rumgesprochen zu haben. Zumindest nicht bis zu meiner Wiese.
„In dem Wort Erwartungen steckt auch das Wort warten“, sagte meine Yogalehrerin so ganz nebenbei gestern Abend beim Unterricht und ich dachte: stimmt. Ich wartete damals auf die Bestätigung der Männer, dass ich so, wie ich bin, gut genug für sie sei. Ich weiß, ich weiß, ich weiß. Irgendwann begriff ich es, ließ genau diese Art Männer links liegen, die mich nicht exakt so wollten, wie ich war und bei denen ich in mein altes Muster verfiel – und dann stand er da: der Richtige. An den ich dann wiederum irgendwann Erwartungen hatte, von denen ich ihn und mich regelmäßig versuche zu befreien. Vor allem dieses Jahr.

„Ich glaube, dieses Jahr sollten wir uns gegenseitig einen Pandemiepuffer zugestehen.“ -

Einen Geduldspuffer, einen Liebespuffer, einen Vorschuss an Vertrauen, dass wir alle alles geben und trotzdem aktuell nicht alles richtig machen können. Genau wie viele andere. Ich merke, wie andere Erwartungen an mich haben, die ich nicht erfüllen kann. Mir fliegt, wie so vielen, im Moment regelmäßig das Leben um die Ohren. Und der einzige Ausweg, wie ich die Situation entspannen und nicht noch verschlimmern kann, ist, wenn ich versuche so wenig Erwartungen wie möglich zu haben. An andere und vor allem an mich selbst. Ich erwarte grundsätzlich nicht von mir, mit dieser für alle unbekannten Pandemiesituation wie ein Profi umzugehen. Ich habe das, was uns allen gerade passiert, noch nie erlebt. Das hat so noch niemand, nicht vergessen. Also lebe ich auf Sicht. Ich gestehe mir ein, dass sich meine Emotionen im Gegensatz zu früher im schlimmsten Fall täglich mehrmals ändern können. Ich erwarte nicht von mir, dass ich damit perfekt umgehe. Ich verkacke Dinge, das habe ich schon immer. Aber aktuell ist die Dichte der Fehlpässe wahrscheinlich höher als sonst. Ich bin dran, das in den Griff zu bekommen. Vielleicht werde ich es nie wieder ganz und das ist okay.
Veränderung ist okay. Ich habe irgendwann die roten Samtvorhänge verschenkt. Sie haben nicht mehr zu mir gepasst. Was aber nicht heißt, dass wir keine großartige Zeit zusammen hatten.

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