Liebe, Beziehung & Sex
Das ja wohl der Höhepunkt
Den ersten Orgasmus erst mit 35? Saralisa Volm erzählt von ihrem sexuellen Erwachen.
von Saralisa Volm - 01.05.2023
Sex handelt von der Liebe, dachte ich immer, von Zuneigung und Verbundenheit. Ich wollte eine Disneyprinzessin sein und Mr. Right finden, gerettet werden wie Pretty Woman. Ich wollte, dass sich eine große, schwere Therapiedecke der Zuneigung um meine unendliche Unsicherheit legt und alles Zweifeln verstummen lässt. Doch während der ersehnte Kuss noch mächtig und rettend auf meinen Lippen lag, wurde die körperliche Begierde nicht in eine Offenbarung verwandelt. Nur weil es sich gut anfühlte, in einem warmen Arm zu liegen, waren da noch kein Orgasmus und keine Befriedigung.
Schnell lernte ich, dass ich nicht Pretty Woman bin und erst recht keine Prinzessin, dass der Schimmel dich an der nächsten verstaubten Straßenecke abwirft und du besser selbst zurechtkommst, dass eigenes Geld, eigene Freund*innen und ein eigener Plan lebensnotwendig sind und ein starker Arm dich nur halten kann, wenn du ihm etwas entgegensetzt.

„Ich hatte kein Problem, für diese Anforderungen zu arbeiten, aber auf mein Sexleben konnte ich das nicht übertragen.“ -

Mein einziger One-Night-Stand, ich war 16, war unfassbar langweilig, mechanisch und ernüchternd. Das Spannendste war meine Nagellackfarbe. Ein kaltes, leuchtendes Orange aus dem Drogeriemarkt auf meinen Nägeln, die sich filmreif in das Unterhautfettgewebe meines Gegenübers bohrten, um Intensität zu heucheln. Die Farbe sollte ich wiederholen, den Rest eher nicht. Ich setzte mich auf den Typen, damit es schneller geht, sah nebenher den Film Blairwitch Project und hoffte, dass mein ambitioniertes Hoch- und Runterrutschen einen Samenerguss auslösen und dadurch das Ende bedeuten würden. Wenigstens dabei war ich erfolgreich.
Was blieb, waren ein fahler Nachgeschmack, Enttäuschung und ein bisschen Wut. Es folgte eine Zeit ohne Sex, die mich nervte, denn ich wollte meine sexuelle Energie umgesetzt sehen wie im verdammten Film oder der Literatur. Ich lag in meinem Zimmer und fand selbst die Ausführungen von Marquis de Sade erotischer als das, was mir in schummrigen Räumen auf Partys begegnete, und nicht weil in seinen Büchern einer jungen Frau ein Kreuz in den Unterleib gerammt wurde, sondern weil mir die Entweihung der christlichen Symbolik gefiel, die unsere Sexualität unterdrückt. Weil die Nonnen Gott das Fürchten lehrten, wenn sie den Pfarrer fickten. Weil Sex hier auch von umgekehrter Macht und von der Zersetzung einer verlogenen Gesellschaft handelt. Ich fühlte mich angezogen von diesem erregenden Machtkampf, von Hingabe und Selbstauflösung. Aber ich fand kein Ventil, und wenn ich das Gleiche tat wie die Frauen im Film, spürte ich nicht, was sie zu spüren vorgaben.

„Erstaunlich, dass ich mich bei all dem zwischenmenschlichen Scheitern nicht viel früher der Selbstbefriedigung zuwandte.“ -

Während ich die Jungs in meiner Schule befragte, wie oft sie masturbieren, und die erstaunten Mädchen über die genauen Zahlen aufklärte (ein- bis zwanzigmal die Woche), kam ich nie auf die Idee, es selbst zu tun. War ich zu ungeduldig? Wusste ich nichts damit anzufangen? Ich weiß es nicht.
Jedenfalls hatte ich in vielen Filmen Orgasmen gespielt, bevor ich selbst einen hatte. Ich musste 35 werden und einen Klitorissauger im Internet bestellen, um einen Orgasmus zu bekommen. Booom. Es funktionierte. Mir kribbelte es in den Kniekehlen und hinter den Ohren. Ich zuckte und stöhnte. Ich kann für ein paar Tage oder Wochen nicht aufhören damit. Allein lerne ich, dass Loslassen nicht zu schlimmen Erlebnissen, sondern zu guten Gefühlen führt.
Und als das lieb gewonnene Gerät irgendwann kaputt ist und ich es so sehr vermisse, bin ich das erste Mal bereit, selbst Hand anzulegen. Ich scheitere natürlich. Wie lange kann das dauern? Aber drei Tage und eine halbe Tube Gleitgel später ist es so weit: Mit Mitte dreißig fingere ich mich das erste Mal selbst bis zum Orgasmus. Mit meiner eigenen Hand. Geschafft. Ich will mehr.
Ich liege im Bett, gucke beruflich bedingt als Kinofilme getarnte Softpornos und versuche, mich selbst zu befriedigen. Aber alles, was ich sehe, ist wenig erregend. Wild stoßende Gockel mit ölig glänzenden Muskeln. Schwierig. Es wird besser, als zwei Frauen auftauchen und Sex haben, den mein Körper versteht. Diese Erfahrung macht auch mein pornoglotzender Körper. Ich, die sich nie für Pornos interessierte, entdecke eine neue Welt. Filme, die explizit lesbischen Sex zeigen. Was ich nicht brauche, sind Umschnalldildos. Während heterosexuelle Pornos zwar heterosexuellen Geschlechtsverkehr ganz gut abbilden, bei dem Frauen und ihre Biologie wenig berücksichtigt werden, sind diese mir aber weder zu Erregung, Stimulation oder auf dem Weg zum Orgasmus hilfreich. In lesbischen Pornos dagegen finde ich etwas Neues. Hier geht es plötzlich um mich, um meine erogenen Zonen und um die klitorale Stimulation innerhalb oder außerhalb der Vagina. Ich fühle es.
Obwohl ich schon oft mit Frauen rumgeknutscht habe, verliebte ich mich nie tiefgehend in sie. Egal wie viel Queerness in mir und jeder*jedem anderen steckt: Ich liebe Männer und will mit ihnen mein Leben teilen. Ich bin nicht irritiert von dem Anblick eines Penis. Ich greife gerne nach rasierten Eiern. Ich mag Sperma auf meinem Körper. Ich mag Sex.

„Aber ab einem bestimmten Punkt wurde er immer langweilig, weil die Begierde bewiesen war und keine Erfüllung folgte.“ -

Die Darstellungen von Sex um uns herum sind nicht zielführend, sondern so, wie Laurie Penny es in „Fleischmarkt – Weibliche Körper im Kapitalismus“ beschreibt: „Was uns umgibt, ist nicht der Sex selbst, sondern die Illusion von Sex, eine ebenso sterile wie unbarmherzige Vision einer erzwungenen, spaßfickenden Sexualität.“
Frauen, die keine Lust auf klassischen Rein-raus-Sex haben, wie wir ihn in den meisten Filmen und Pornos zu Gesicht bekommen, sind weder frigide noch erotikfeindlich. Sie haben auch keine Probleme mit ihrem Körper und mit dem Körper anderer. Sie wollen nur nicht benutzt werden als Taschentuch zum Reinwichsen. Sie wollen ernst genommen werden als Gegenüber, als Körper, als Wesen mit Bedürfnissen. Frauen sind kein Loch in der Wand und keine glatt rasierten, dauerfeuchten Gummipuppen, in die man jederzeit seinen Schwanz stecken kann. Wer das sucht, sucht die Fast-Food-Selbstbefriedigung mit einem Gegenüber, das danach noch einen Film streamen mag, aber wenig Wert auf sein eigenes Empfinden legt.
Eine sexuelle Erfahrung, die den Begriff verdient, ist eine, die gemeinsam erlebt wird und mehr bietet als einen abgebauten Samenstau. Viele Frauen brauchen Zeit und Hingabe, bis sie so weit sind, penetriert zu werden. So wie nicht jeder Schwanz instant hart ist. So wie nicht jede*r, der*die gestresst nach Hause kommt, Bock auf Sex hat. So wie nicht jeder Porno zu gesteigerter Libido führt. Das ist nicht schlimm. Das ist normal.

„In der Liebe und im Begehren sollte Platz für unsere Bedürfnisse und Unzulänglichkeiten sein – ob beim Quickie oder Slowsex, ob beim Bondage oder in der Missionarsstellung.“ -

Der Orgasmus-Gap ist real. Die Studien sind vielfältig und kommen in unterschiedlichen Ländern zu unterschiedlichen Ergebnissen, aber immer ist klar, dass heterosexuelle Männer befriedigter sind als der weibliche Gegenpart. Während 95 Prozent von ihnen 2017 in einer Studie des Fachmagazins Archives of sexual behaviour angaben, beim Sex regelmäßig zum Orgasmus zu kommen, sind es nur 65 Prozent der heterosexuellen Frauen. Der Gap ist gewaltig, damit scheint eindeutig, dass Penetration nicht ausreicht: „Frauen bekommen mit höherer Wahrscheinlichkeit einen Orgasmus, wenn ihre letzte sexuelle Begegnung neben dem Vaginalverkehr auch tiefe Küsse, manuelle Genitalstimulation und/oder Oralsex beinhaltete.“
Homosexuelle Frauen erleben mit 86 Prozent deutlich häufiger einen Orgasmus. Jill Johnston, die offen lesbisch lebende Kulturkritikerin von „The Village Voice“, die ihre sehr eigene Herangehensweise an die Revolution als „Ost-West-Blumenkind beat hip psychedelisches Paradies jetzt Liebe Frieden mach dein eigenes Ding Vorgehen“ beschreibt, erzählt in ihrem Buch „Lesbian Nation“ von ihrem ersten Orgasmus mit einer älteren Frau: „Ich wurde ein sexuelles Etwas. Ich konnte es mit jemand anderem oder auch mit mir selbst tun. Da ich zufällig einen Orgasmus erlebte, konnte ich den Ort der Erregung rekonstruieren, um ihn selbst herbeizuführen, und das war eine große Entdeckung, wie jeder weiß. Ich hatte noch nie etwas von einem Orgasmus gehört. Als ich einen hatte, war ich so überrascht, als hätte ich gehört, dass die Marsmenschen gelandet waren.“
Es ist gut, wenn wir uns selbst besser kennenlernen. Eine Sprache schaffen für unser Empfinden und Forderungen stellen. Unsere Fantasien feiern, anstatt sie zu verstecken. Uns bilden und fühlen. Sexuelle Befreiung bedeutet, nicht nur nach außen zu tönen, sondern auch nach innen zu hören. Was will ich und wie soll sich das anfühlen? Es braucht Platz für Ambivalenzen, zurückgenommene Entscheidungen und Spielraum, den wir von unseren Partner*innen einfordern sollten.
Der Text ist ein exklusiver Auszug aus dem Buch „Das ewige Ungenügend“ von Saralisa Volm, das gerade im ullstein Verlag erschienen ist. Dort erzählt die 38-jährige Schauspielerin, Filmproduzentin und Kuratorin die Geschichte ihres ambivalenten Verhältnisses zum eigenen Körper und fragt sich: Wer ist schuld an unserem Schönheitsdilemma? Und vor allem: Was können wir Frauen ihm entgegensetzen?

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