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Als Fatih Akin gerade anfing berühmt zu werden, hat er in einer Tageszeitung einen dieser Fragebögen ausgefüllt, die abhängig von dem*der Antwortenden beknackt bis inspirierend ausfallen. Jedenfalls meine ich mich zu erinnern, dass Akin damals den Tipp gab: „Wenns dir schlecht geht, räum die Bude auf.“ Nun gehört der Regisseur zu den Menschen, mit denen ich eine imaginäre Freundschaft pflege, und ich empfand die simple Weisheit seiner Worte als tröstlich. Dank einer gepflegten Sortier-/Putzaktion wieder ins Tun zu kommen und danach im wahrsten Sinne des Wortes aufgeräumter auf eine Misere zu schauen, funktioniert für mich immer.
Seit einigen Wochen aber ertappe ich mich dabei, ständig aufzuräumen. Nicht nur oberflächlich die Bude in Schuss zu halten oder einmal auf Maria Kondo zu machen. Es geht eher in Richtung befremdlich. Ich sehe zu, dass die Vorratsgläser in der Küche eine identische Füllhöhe aufweisen, Pullover jahreszeitentauglich in den Regalen liegen und die Medikamente nach Krankheiten sortiert griffbereit in beschrifteten Boxen lagern. Es ist, als mutiere ich parallel zu Covid, nur dass mein Virus Ordnungswahn heißt und sich mindestens so aggressiv ausbreitet wie Omikron. Als ich gestern Mittag bereits das große Glas mit der Radiergummisammlung aus Grundschultagen (fragt nicht …) ausgekippt hatte, um den Inhalt übersichtlich in einer Schachtel anzuordnen, wusste ich, dass es Zeit ist, mich zu hinterfragen.
Nun bin ich so weit küchenpsychologisch aufgestellt, dass ich einen Zusammenhang zwischen anhaltender Pandemie, dem Rückzug in meinen Mikrokosmos und dem wachsenden Bedürfnis nach Ordnung und Kontrolle als neuen Quell des Friedens erkenne. Was genau dahintersteckt, aber noch nicht. Ein Anruf bei meiner Hamburger Lieblingstherapeutin Silke Ritterbach ist angesagt. „Es macht Sinn, sich auf Pullover und Vorratsgläser zu stürzen – die sind nach einer Stunde aufgeräumt und Sie verbuchen ein Erfolgserlebnis. Das ist weniger anstrengend, als allwöchentlich einen neuen Yogakurs zu besuchen oder sich zu fragen, ob Sie noch in der Beziehung glücklich sind oder den Job wechseln sollten“, sagt Frau Ritterbach. „Nachhaltig etwas zu ändern im Leben weckt den inneren Schweinehund, schließlich bedeutet es, Muster und alte Strukturen verlassen zu müssen.
„Selbst Menschen, die entschlossen sind, etwas zu bewegen, verfügen über einen inneren Anteil, der sich nicht anstrengen möchte und am Bestehenden festhält.“ -
Veränderung erfordert in der Tat Anstrengungen und weckt auch Ängste: Schaffe ich das, wird es danach besser oder werde ich alles bereuen? Auf der anderen Seite verspricht der Step aus der Komfort- in die Risikozone Lebendigkeit und positive Energie.“
Während ich einen orangefarbenen Barbapapa-Radiergummi anno 1981 in der Hand drehe, wird mir bewusst, dass das Schaffen einer äußeren Ordnung tatsächlich etwas mit meinem inneren Durcheinander zu tun haben könnte. Schon seit längerem schwelt der Wunsch, mich neu zu sortieren, um Platz zu schaffen für das, was ich wirklich will: mich wieder in meinem eigenen Leben auszubreiten. Bei dem Gedanken durchströmt mich sofort ein wohliges Pritzeln. Ich beginne spontan Post-its mit konkreten Wünschen an die Wand zu kleben. Morgens meditieren. Alle David-Lynch-Filme schauen. Muskeln aufbauen.
Learning eins: „Ja und Nein“-Karten helfen beim Entscheidungentreffen.
Meine Ziele vor Augen, verlasse ich schon etwas aufgeschlossener die Komfortzone und schaue mir eine nicht ganz unwesentliche Stellschraube des Lebens an: meinen Job. Der verlangt nach einer Entscheidung. Kümmere ich mich um eine Erhöhung der Stundenzahl bei meiner Festanstellung oder teile ich weiterhin zwischen fester und freier Arbeit auf? Pro-und-Kontra-Listen haben klar zugunsten einer Aufstockung entschieden – Stichwort Traumjob, finanzielle Vorteile, soziale Absicherung, kein Akquisestress – doch an mir nagen Zweifel, die ich nicht so recht fassen kann. Ritterbach empfiehlt mir „Ja und Nein“-Karten in die Hand zu nehmen. Das Experiment ist so simpel wie überzeugend. Zeige ich meiner Außenwelt ein Ja zum Job in Festanstellung, blicke ich dem Nein auf der Rückseite der Karte entgegen und merke schnell, dass dieses Nein ein Nein zu mir selbst ist. Denn mit meinem jetzigen Modell bin ich zwar gezwungen, selbstständig Geschichten zu verkaufen, dafür entscheide ich die meiste Zeit meines Lebens, wann genau und von wo auf der Welt ich arbeite. Und damit meine ich weniger Bora Bora als Homeoffice, was in puncto Vereinbarkeit, Stresslevel und Unabhängigkeit der wahre Luxus ist. Ich atme durch und habe eine Entscheidung.
„Und wo wir schon bei Luxus sind: Vielleicht könnte ich mir sogar erlauben, weniger zu arbeiten?“ -
Muss ja nicht gleich die umfassende Lebensnummer sein, fangen wir doch einfach mal niederschwellig mit einem Plan für diesen Sommer an. Das impliziert eine realistische Bestandsaufnahme meiner Einkünfte und ich sehe schon die ersten hektischen Flecken am Hals emporkriechen.

Nun muss man wissen, dass Finanzen so etwas wie die Achillesferse meines emanzipatorischen Selbstverständnisses sind. Mein Mann ist Hauptverdiener und allein meiner Ignoranz geschuldet auch Hauptchecker, was unsere Konten und Fonds anbelangt. Dank der Finanzexpertin Ivonne Senn („Treat your money like your lover“) beginne ich nun damit, mich einmal die Woche zu einem festen Date mit meinem Konto zu verabreden. Seitdem bleiben nicht nur Mahnungsbriefe aus, ich spare auch sehr viel Energie, die sonst ins schlechte Gewissen ob der ungeöffneten Bankbriefe geflossen ist. Als jemand die Mühe hat, den Überblick zu behalten, kann ich zudem nur empfehlen, klar benannte Unterkonten und Daueraufträge (etwa um regelmäßig für Steuerrückzahlungen Geld zurückzulegen) einzurichten. Vor allem aber gehe ich in die bewusste Auseinandersetzung, wofür ich mein Geld ausgeben will im Leben.
Mir wird klar, dass ich für mein Seelenheil zwar eine durchdachte Altersvorsorge brauche, dafür keinen Wert auf ein Eigenheim lege, vor allem nicht, wenn mich das in puncto Reisen und Sarahs Erholungssommer beschneidet. Plötzlich fällt mir auf, dass ich für keinen der aufgehängten Post-it-Wünsche Geld benötige. Natürlich habe auch ich ständig Bock, mir irgendwas zu kaufen (aktuell: die cognacfarbenen Wildlederboots von Saint Laurent). Doch seitdem ich mich zwinge, alles, was ich gerne hätte, eine Nacht lang im Warenkorb zu lagern, merke ich, wie Gier oftmals in Gelassenheit umschlägt. Und vor dem Hintergrund, mir mehr Zeit für mich leisten zu wollen, erstrahlen meine alten Bash-Boots plötzlich in neuem Glanze. Alles eine Frage der Prioritäten. Ich merke, dass ich aufgekratzt werde.
Learning zwei: Positive Glaubenssätze motivieren bei großen Vorhaben.
Jetzt, da der äußere Rahmen dem kleinen Neuanfang standhält, geht es darum, im Kleinen zu schauen, was mich davon abhält, regelmäßig Yoga zu machen oder den Morgen mit Meditation zu beginnen. „Ich halte eher weniger von Vorsätzen, die gehen meist mit einem Scheitern einher“, fängt mich Ritterbach auf. Zunächst einmal soll ich den Schalter im Kopf umlegen und nicht von „ich muss endlich“ sprechen, sondern mir lieber Glaubenssätze zurechtlegen: Ich gönne mir. Ich erlaube mir. Mein Schweinehund wedelt mit dem Schwanz. Sollte ich ihn wirklich so leicht überlistet haben? Plötzlich erfordert die abendliche Sportstunde nicht mehr Überwindung, sondern trägt den attraktiven Stempel Me-Time. Seitdem klar kommuniziert ist, dass ich mich zwei Abende ausklinke, organisiert sich meine Familie zudem bestens selbst und im Falle eines Versorgungsengpasses springen wahlweise Sitter oder Netflix ein.
„„Es sind die kleinen Schritte, die einen in Bewegung bringen“,“ -
sagt Ritterbach und hat auch gleich den nächsten Tipp parat. Statt mich eine Stunde vor allen anderen aus dem Bett quälen zu wollen, um ungestört meditieren zu können (und stattdessen täglich frustriert zu sein, dass ich das als einzige Langschläferin der Familie höchstens einmal im Monat schaffe), rät sie mir zur Mini-Meditation beim Morgenkaffee. „Sie müssen dabei ja nicht mal die Augen schließen und können sich entweder ein Mantra anhören oder auch einer einzelnen Frage nachgehen. Beispielsweise: „Was will ich im alten Jahr zurücklassen?“ Ballast wegzulassen, erzeugt ein Gefühl der Befreiung. Lieber also schlechte Gewohnheiten zurücklassen, als sich neue Verpflichtungen und Vorsätze ans Bein zu binden. Auch das schafft Platz für Neues, fühlt sich aber viel weniger anstrengend an.“
Ich atme tief ein und fühle mich beschwingt. Die Bude blitzt, mir geht`s besser. Was ich heute Abend machen werde? Ziemlich sicher Yoga. Und danach: „Kurz & Schmerzlos“ gucken.