Gefühle & Gedanken
Gute Frage
Zu alt für Neues? Vonwegen, sagt Ninia LaGrande (38), und wird jetzt Kinostar.
von Ninia „LaGrande“ Binias - 01.05.2022
Diesen Text gibt es auch als Audio-Artikel. Zum Hören ans Ende des Artikels scrollen.
Ich kann es selbst kaum glauben, aber ich stehe vor einem Trailer, einem Wohnwagen an einem Filmset, und dieser Trailer steht dort für mich. Das ist mein Kostüm, das dort drin hängt. Das sind meine Highheels und meine flauschigen Stiefel für die Umbaupausen. Das ist mein Schmuck. Am Trailer hängt ein Schild mit der Aufschrift „Bloggerikone“. So heißt meine Rolle. Meine Nebenrolle in einer großen, deutschen Kinoproduktion. Alles fühlt sich für einen Moment an wie „Jetzt habe ich es geschafft“. Obwohl ich erst gar nicht wollte, weil ich zu viel Sorge hatte, alles könnte zu stressig werden. Nicht zu schaffen als Selbstständige und Mutter inmitten von Corona und Betreuungsengpässen in der Kita. Und weil ich die Kontrolle abgeben musste – wer weiß, was am Ende dabei rauskommt. Was die anderen denken werden. Was ich denken werde, wenn ich mich auf der Leinwand sehe. Dabei kümmert es mich sonst wenig, was andere denken. Nur – mit achtunddreißig nochmal das Genre wechseln und etwas ganz anderes machen? Mit den Profis mithalten, traue ich mir das zu?
Ich habe schon immer auf vielen Hochzeiten getanzt. Ich schreibe, ich moderiere, ich spreche, ich spielte Theater, ich machte Kabarett. Ich war sogar mal Sportreporterin. Man müsse sich entscheiden, sagte der erfahrene Journalist vom NDR vor vielen Jahren zu mir. Ich könne nicht immer alles machen, irgendwann müsse ich eine Entscheidung fällen. Nur noch Tageszeitung oder nur noch Radio oder eben Fernsehjournalistin. Denn die künstlerische Autorin, das könne ich eh vergessen. Damit werden nur die wenigsten erfolgreich. Offenbar war für ihn klar, dass ich keine Chance habe zu den Wenigsten zu gehören. Aber die Welt dreht sich weiter und Medien entwickeln sich und auf einmal ist es sogar ganz praktisch, wenn du schreiben, sprechen und moderieren kannst, weil genau das als Gesamtpaket auch gefragt ist.
Als ich vierzehn Jahre alt war, hatte ich eine genaue Vorstellung von mir als Erwachsene. In der Schule sollten wir auf einen kleinen Zettel schreiben, wie unser Leben aussehen wird, wenn wir doppelt so alt sind – also achtundzwanzig Jahre alt. Jung. Jung, natürlich. Aber aus der Sicht einer Vierzehnjährigen sind Achtundzwanzigjähre wirklich alt. Ich habe diesen Zettel lange aufgehoben. Wie eine kleine papierne Zeitkapsel ist er mir bei meinem Umzug nach dem Studium von Göttingen nach Hannover wieder in die Hände gefallen. Und zufällig war ich genau zu diesem Zeitpunkt achtundzwanzig Jahre alt.
„Wenn ich achtundzwanzig Jahre alt bin, werde ich auf einer kleinen Insel in der Nord- oder Ostsee leben“, stand dort in großer, schwungvoller Handschrift, „ich arbeite als Journalistin und bin in der ganzen Welt unterwegs. Außerdem bin ich mit einem sportlichen Mann verheiratet und fahre einen Mazda MX 5.“
Wow.
Ich bin inzwischen achtunddreißig Jahre jung und fahre immer noch keinen Mazda MX 5. Mein Mann hat seit der Pandemie ein schickes Rudergerät im Arbeitszimmer. Es sieht gut aus, wie es da so unbenutzt herumsteht. Und Hannover hat wirklich schöne Seen, aber als Insel kann ich die Stadt beim besten Willen nicht verkaufen. So ähnlich ging es mir auch schon vor zehn Jahren, als ich den Zettel las und gezwungen war, mich zu fragen, ob meine Wünsche immer noch die gleichen sind. Oder, ob das, was aus mir geworden ist, vielleicht auch ohne Inselleben ganz ok ist.

„Spoiler: Alles war mehr als ok.“ -

Aber was nicht auf dem Zettel stand: Erfolgreiche Journalistin war damals mein Code für berühmte Moderatorin. Dieser Traum stand seit meiner Jugend im Raum. Nur Moderatorin konnte man nicht unbedingt studieren UND Berühmtsein sowieso nicht – also nahm ich mir das Ziel, was dem am nächsten war und realistisch umzusetzen schien. Mit achtundzwanzig war ich davon allerdings noch weit entfernt. Ich hatte ein Volontariat in der Unternehmenskommunikation gemacht und trat regelmäßig auf Poetry Slam Bühnen auf. Und ich hatte immer noch im Hinterkopf, dass ich mich angeblich entscheiden müsste. Ich machte mir selbst Druck. Wenn ich mit dreißig noch nicht dort angekommen sei, wo ich hinwollte – nämlich ins Fernsehen und vor Kameras – dann könnte ich diesen Traum abschreiben, dachte ich. Wer wird denn erst richtig erfolgreich, wenn er oder sie schon in den 30ern ist? Meine Vorbilder von MTV und Viva waren alle Stars, als sie achtzehn oder neunzehn waren. Im Abibuch unter Zukunft stand bei mir: die nächste Markus Kavka. Wer richtig groß werden will, muss früh im Geschäft Fuß fassen, dachte ich.

„Was ich aber erst mit über dreißig gelernt habe: Wer etwas erreichen will, muss Dinge auch einfach machen.“ -

Zusagen. Chancen ergreifen, bevor sie weiterziehen. Völlig utopische Träume verfolgen – ohne darüber nachzudenken, was die anderen denken. Dieses Alter, in dem das Leben komplett eingerichtet ist, wie eine praktische Küche, und sich nichts mehr verändern darf außer die Saugkraft deiner Dunstabzugshaube – das gibt es nicht.
Die Designerin Vera Wang hat ihr erstes Kleid entworfen, da war sie vierzig Jahre alt. Sie ist jetzt zweiundsiebzig und die Frau, an die wir als erste denken, wenn es um traumhafte Hochzeitskleider geht. Samuel L. Jackson hat mit dreiundvierzig Jahren seine erste größere Rolle in einem Spielfilm gespielt und ist heute aus Hollywood nicht mehr wegzudenken. Er war zwar keine „Bloggerikone“, aber ich bin auch noch nicht dreiundvierzig – wer weiß, was noch passiert! Und Harry Bernstein, der bekannte amerikanische Schriftsteller, hatte seinen ersten Erfolg im Alter von sechsundneunzig. Er starb dann zufrieden, so hoffe ich, mit einhundertundeins. Sein Leben hat ihm die Zeit gegeben, die er brauchte. So lange wollen die meisten von uns vermutlich nicht abwarten, aber neue Lebensentscheidungen und scharfe Kurven, Zacken oder Brüche im Lebenslauf sind in jedem Alter erlaubt – wenn nicht sogar nötig, um nicht komplett vor Langeweile unterzugehen.
Ein kleines Beispiel abseits des Showbusiness: Der Mann meiner Freundin Rhea studierte Tiermedizin und arbeitete ein paar Jahr als Tiermediziner in einer Klinik. Mit Mitte dreißig entschloss er sich, doch noch einmal alles anders zu machen – er kündigte und machte eine Ausbildung als Bootsbauer. Eine Zeitlang lebte er in einem alten Bulli, weil er sich von seinem Ausbildungsgehalt mehr nicht leisten konnte. In den Mittagspausen saß er wie ein Alien zwischen all den Teenies und jungen Erwachsenen. Aber der Weg hat sich für ihn gelohnt. Inzwischen ist er tatsächlich Bootsbauer und Hausmann – und glücklicher als je zuvor.
Was lernen wir daraus? Der Mann meiner Freundin ist nicht Vera Wang, aber

„wenn uns etwas komplett absurd und unerreichbar erscheint, könnte am Ende etwas Gutes dabei rauskommen.“ -

Etwas, das uns glücklicher macht. Auf die richtige Art.
Selbstverständlich sind wir oft in Lebenssituationen, die gravierende Veränderungen nicht zulassen. Weil wir auf diesen Job angewiesen sind oder Verantwortung für andere haben. Weil wir mit Mitte dreißig, vierzig oder fünfzig eben nicht mehr diese Sorglosigkeit der Zwanziger haben. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass auch Veränderungen in kleinen Schritten Großes bewirken können. Für neue Hobbies, neue Städte und neue Erfahrungen gibt es keine Altersgrenzen.
Ich bin jetzt übrigens angefixt. Der Film kommt erst nächstes Jahr in die Kinos. Aber ich kann schon verraten, dass der Regisseur ziemlich zufrieden war mit mir. All die Sorge also umsonst. Und das Leben am Set war ungefähr das Gegenteil von meinem Alltag. Man wird überall abgeholt und hingebracht. Hier noch ein Wasser oder ein Kaffee und den Reißverschluss muss man auch nicht selbst schließen. Es hätte mich am Ende nicht gewundert, wenn ich nicht mal mehr selbst auf Toilette hätte gehen müssen. Zuhause gab es nach den Drehtagen plötzlich niemanden mehr, die mir das Gesicht gepudert hat, sondern nur noch eine kleine Person, der ich plötzlich wieder alles anreichen sollte. Aber es war nicht nur das Verwöhnprogramm, das ich zu schätzen wusste, sondern vor allem das Spielen. Das Schlüpfen in eine andere Rolle, das so ganz anders ist als Moderieren oder Schreiben. Davon hätte ich gerne mehr.

„Überhaupt hätte ich gern mehr Neues.“ -

Das Fenster aufmachen und frischen Wind ins Leben lassen. Im Keller liegt mein altes Pennyboard. Letzte Woche habe ich mir einen neuen Helm und Knieschützer gekauft. Von wegen, was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Ninia lernt jetzt Skaten. Völlig egal, was die Profis auf dem Platz von mir denken. Ich bin mir sicher, dass am Ende etwas Gutes dabei rauskommt. Und wenn es ist, dass mein Kind sich darüber amüsiert, wie viel besser es skatet als ich – oder ich mit einer fetten Schürfwunde angeben kann. Am Ende kommt immer etwas Gutes bei raus. Man muss sich nur trauen.

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