Wonach ist dir heute?
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Mein Ansatz geht jetzt bis zum Ohrläppchen. Es gibt nichts mehr zu beschönigen – ich muss zu Basti. Basti ist mein Friseur und leider ist Basti ein sehr beliebter Friseur, sodass ich noch ein bisschen warten muss, bis ich im runden Stuhl vor dem großen Spiegel Platz nehmen darf. Es grenzt an Hohn, dass die Schlange vor den Friseursalons jetzt schneller abgearbeitet wird als die vor den Impfzentren. Hurra, die Welt geht unter, aber Hauptsache, meine Haare liegen gut. Bis dahin nehme ich mir ein Beispiel an Chris Sommer, einem der Hosts vom Zeitgeist-Podcast „Drinnies“, und arbeite mit der sogenannten Laptopkappe oder -mütze. Ich besitze wie Chris eine Mütze, die dauerhaft neben meinem Laptop liegt. Und wenn ich mit der einen Hand das Ringlicht anschalte, ziehe ich mir mit der anderen die Mütze über den Kopf – ich habe das lange eingeübt, ich hatte genug Zeit dafür. Selbst wenn das Trockenshampoo nicht mehr hilft, Mütze drauf, fertig. Die Kunst ist dann nur, das als Style zu verkaufen.

Apropos Style. Ein Friseurbesuch ähnelt ja immer einer kleinen Selbstrevolution. Einem Apothekenbesuch für die Seele. Liebeskummer? Neue Frisur. Jobwechsel? Neue Frisur. Abgestillt? Neue Frisur. Das war tatsächlich das Erste, was ich als Mutter allein gemacht habe. Ich saß knapp vier Stunden bei Basti, die Paintings wirkten ein, ich trank literweise Kaffee und erfreute mich an lächerlichem Klatsch aus den bekannten Zeitschriften. Es war die erste Me-Time seit Wochen und ich wollte einfach mal wieder aussehen wie ich selbst. Und darunter verstand ich selbstverständlich nicht die platte, ungekämmte Kunstinstallation auf meinem unausgeschlafenen Kopf, sondern eine strahlend blonde, gut geföhnte Löwenmähne, die allen im Babymassage-Kurs die Augen blenden würde.

Und nun? Same, same, but different.

Alle wollen wiedergeboren werden unter der silbernen Schere des Coiffeurs.

Zurück zum alten Ich. Zurück zum alten Ich? Wollen wir das wirklich – zurück zu den Zeiten vor der Pandemie? Oder muss auch die Haarpracht herhalten, um aufgeräumt zu werden, wenn schon alle Schränke durch sind, oder soll oben auf dem Kopf gar etwas gewagt werden, weil es sonst gerade nichts zu wagen gibt?

Ich kann all die Nachrichten, in denen mich Freundinnen gefragt haben, ob sie möglicherweise doch einen Pony haben sollten, gar nicht mehr zählen. Ich habe so lange mit panischen Neins geantwortet, bis ich selbst kurz davor war, mir einzureden, dass ich mich mit Pony doch immer ganz gut gefühlt habe. Ich bin Brillenträgerin – da fühlt man sich mit Pony nie gut, sondern nur schwummrig, weil die Haare die Brillengläser direkt morgens schön anfetten und man dann keinen klaren Durchblick mehr hat.

Und trotzdem hatte ich tief in mir drin das Gefühl, dass jetzt doch alles anders werden müsste. Restauriert in die neue Zeit. So ähnlich müssen sich die Frauen der 1920er gefühlt haben, als plötzlich der sogenannte Bubikopf en vogue war. Der Erste Weltkrieg war vorbei, alle dachten, jetzt wird’s richtig geil, hau raus die emanzipierte Sexyness und ins aufregende Nachtleben ging’s mit praktischer Kurzhaarfrisur und androgyner Kleidung. Quasi die Influencerin der neuen Kopfmode war die dänische Schauspielerin Asta Nielsen. Im Februar 1921 feierte ihr Film „Hamlet“ Premiere. Richtig, IHR Film. Denn Nielsen hat den Film produziert, selbst die Hauptrolle gespielt – Hamlet, also einen Mann – und zur Premiere trug sie kurze Haare. Dieses Paket wäre selbst heute, 100 Jahre später, immer noch ein feministischer Brüller. Auch Coco Chanel, damals mit ihrem neuen Parfüm Chanel Nº 5 auf dem Weg, ein Star zu werden, sprach sich für den praktischen Kurzhaarschnitt für die Dame aus. Denn in den 20ern emanzipierte sich nicht nur die Frisur der Frauen, rund 35 Prozent von ihnen arbeiteten – und hatten morgens einfach keine Zeit mehr für die Pflege einer langen Haarpracht. Und so trugen Frauen in den folgenden Jahrzehnten immer häufiger auch kurze Haare. Auch wenn es sogar in unserem Jahrtausend noch für Aufregung sorgt, wenn sich eine bekannte Frau wie Emilia Schüle oder Emma Watson die Haare raspelkurz schneiden lässt.

Da stelle ich mir natürlich die Frage: Was kommt als Nächstes? Wiederholt sich die Fashion-Geschichte und sobald die Pandemie überwunden ist, schwingen wir unsere Hintern Charleston-tanzend und in Flapper Dresses durch die Clubs – mit luftig ausrasiertem Hinterkopf? Sehnen wir uns nach Exzess, Party und Federboas? Harry Styles hat’s bei den Grammys ja schon vorgemacht. Vielleicht ist er schon geimpft und uns allen drei Schritte voraus. Oder dreht sich das Karussell genau in die andere Richtung und wir richten es uns im gemütlich-spießigen Konservatismus ein, mit Föhnwelle, Korsett und Küchenschürze?

Die Wahrheit wird irgendwo dazwischenliegen, genau wie meine Frisur. Hauptsache, sie liegt überhaupt mal wieder.

Die 20er waren übrigens nicht das erste Mal, dass Frauen in Europa ihre Haare kurz trugen. Ihr werdet euch wahrscheinlich nicht daran erinnern, aber Ende des 18. Jahrhunderts trugen die Pariserinnen (wer sonst?!) ihre Haare auffallend kurz. Die Französische Revolution machte den Anstoß für einen Haartrend, den man – ziemlich geschmacklos – als „à la victime“ bezeichnete. Kurz vorher wurden in Frankreich tausende Staatsfeind*innen hingerichtet. Problem: Mit dichtem Haar stirbt es sich nicht so gut – die Guillotine war oft überfordert. Und so wurden den Opfern kurz vor ihrem Tod die Haare geschnitten. Nach der Revolution überwanden die Französinnen auch modisch die Jahre des Schreckens und trugen ihr Haupthaar gern kurz und struppig – provokativ, aber wirksam.

Ich für meinen Teil hoffe, dass wir den Schrecken der Pandemie anders verarbeiten. Aber auch hier gilt, ein bisschen wie beim Liebeskummer, ein bisschen neuer Anfang ist nie verkehrt. Und wie heißt es immer noch so schön: Das ist alles nur eine Phase. Eine Phase, die Basti hoffentlich in Kürze beenden wird. Ohne Pony, ohne Rasur im Nacken, aber mit vier Stunden Selfcare in der herrlich chemisch duftenden Atmosphäre seines Friseursalons.

  1. Kommentare zu diesem Artikel
  2. Claudia 11. April 2021 um 15:01 Uhr

    Dieser Text war ein wahrer Genuss – die Sprache, die Historie, der Witz – perfekt verwoben. Großartig, vielen Dank.

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  3. Stephi 26. März 2021 um 09:51 Uhr

    Hat richtig Spaß gemacht beim lesen!
    Übrigens mit Folien auf dem Kopf beim Friseur

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