Gefühle & Gedanken
New Year, Old Me
Nina Kunz weiß, wie wichtig es ist, ein Jahr gut zu beenden. Und kleine Neuanfänge zu feiern.
von Nina Kunz - 01.01.2022
Die Audiodatei gibt es hier als Download.
  
Letztes Jahr habe ich Silvester mit meiner Großmutter verbracht. Wir haben Fondue gegessen, „Moulin Rouge“ geschaut, um Mitternacht ein Gläschen Sekt getrunken – und waren um 0.40 Uhr im Bett. Es war perfekt. Genauso, so dachte ich dann, sollte ich immer ins neue Jahr starten. Unaufgeregt. Ruhig. In Pyjamahosen.
Aber normalerweise – wenn nicht gerade eine globale Pandemie die Welt zu mehr Langsamkeit zwingt – gelingt mir das eben gar nicht gut. Meist befinde ich mich an Silvester daher irgendwo zu stark geschminkt auf einer Party, halte mich an meinem Drink fest und wünschte, ich müsste nicht bis zwölf Uhr warten, um nach Hause zu gehen.
Eigentlich weiß ich schon lange, dass ich diesen Trubel ums neue Jahr auslassen sollte. Aber ehrlich gesagt, fiel mir das bisher immer ziemlich schwer, weil sich schon irgendwie diese Vorstellung in meinem Kopf festgezurrt hat, dass man sich etwas Mühe geben soll, wenn der Dezember in den Januar umschlägt. Und zwar nicht nur, was diesen Abend betrifft, sondern generell.
Schließlich gibt es doch immer noch diese Erwartung, dass man das neue Jahr unbedingt nutzen soll, um an sich zu arbeiten. Um endlich ins Gym zu gehen. Um weniger zu prokrastinieren. Um sich zu schwören, dass man nie mehr im Bett „Succession“ guckt – und dabei alles mit Snacks vollkrümelt.
Auf Englisch gibt es ja sogar das Schlagwort: New Year, New Me – um genau diese Idee zu beschreiben. Also: dass man alles, was man nicht so an sich mag, im Dezember abstreifen soll, damit man sich im Januar von einem struppigen Pony zu einem edlen Einhorn verwandeln kann. Na ja, vermutlich ist das jetzt nicht die beste Metapher der Welt, aber ich glaube, es wird klar, was ich meine.
Jedenfalls hat mich dieser Selbstoptimierungsnarrativ früher immer enorm gestresst, weil mich das Gefühl beschlich, dass ich – bevor das neue Jahr überhaupt begonnen hatte – schon im Rückstand war. Zudem sah ich auch nur noch, was an mir alles mangelhaft ist und in wie vielen Bereichen ich mich verbessern könnte, was keine schöne Erfahrung war.
Und genau darum war dieses letzte Silvester auch so augenöffnend für mich. Ich kümmerte mich nämlich so wenig wie noch nie um diese Erwartungen von außen und hatte dafür mit meiner Großmutter (und Nicole Kidman und Ewan McGregor) einen prima Abend, der viel mehr meinen eigentlichen Bedürfnissen entsprach.
Für dieses Jahr habe ich mir daher auch geschworen, dass ich keine guten Vorsätze aufschreibe oder mir vorstelle, wie toll und optimiert ich ins 2022 starten könnte. Sondern stattdessen zwei andere Dingen tue:
Erstens möchte ich am 1. Januar mein Telefon ausschalten und mich in meiner Wohnung verkriechen, um so was wie eine Bestandsaufnahme über das letzte Jahr zu machen.
Ich will die Zeitungen sortieren, die ich mir aufgehoben habe, und die Belege ordnen, die überall herumliegen – und mir dabei überlegen, was im vergangenen Jahr so alles passiert ist. Denn das ist enorm viel, aber im Trubel des Alltags habe ich einfach nie Zeit, um das Erlebte in eine einigermaßen runde Erzählung einzubetten.
Natürlich ist es unmöglich, an einem einzigen Tag ein ganzes chaotisches Jahr mental zu ordnen, und das ist auch überhaupt nicht mein Ziel. Ich will einfach das, was war, gebührend Revue passieren lassen, um dann reflektiert in das hineinzustarten, was wird. Ich will also diesen Moment an Neujahr nutzen, um kurz innezuhalten (eine „Feist“-Platte aufzulegen) und mich zu fragen, was in den letzten zwölf Monaten alles gut gelaufen ist und aus welchen Erlebnissen ich etwas lernen könnte.

„Je älter ich werde, desto mehr merke ich nämlich, wie wichtig es ist, Dinge gut abzuschließen.“ -

Und das ist auch kein Zufall. Denn inzwischen gibt es immer mehr Studien, die belegen, wie wichtig gute Enden sind. So hat zum Beispiel die Motivationspsychologin Bettina Schwörer-Hüther an der Universität Hamburg das Thema erforscht und ist – sehr vereinfacht gesagt – zum Schluss gekommen, dass Menschen, die mit einer Sache ein gutes Ende erleben, eher in der Lage sind, loszulassen und weiterzugehen. Während Menschen, die kein gutes Ende erlebt haben, tendenziell an Vergangenem herumgrübeln und sich daher nicht so gut auf Neues einlassen können.
Daher eben: Ich glaube, es lohnt sich, am 1. Januar noch einige lose Enden zu bündeln, wenn das irgendwie geht. Auch wenn es nur darauf hinausläuft, dass man an diesem Tag das Altglas wegbringt, das schon seit Wochen in der Küche herumsteht. Oder man endlich den Gewürzschrank ordnet.
Und nun zur zweiten Sache, die ich mir vorgenommen habe:
Ich will – um gleich zum Punkt zu kommen – all die kleinen Neuanfänge, die man während dem Jahr erleben kann, mehr wahrnehmen und zelebrieren. Denn im Grunde finde ich Neuanfänge ja überhaupt nicht stressig oder ermüdend.
Es ist nur dieser eine, gesellschaftlich aufgeladene Neuanfang – wenn die letzte Ziffer in der Jahreszahl wechselt –, der diesen Effekt auf mich hat. Sonst finde ich Neuanfänge im Gegenteil sogar ganz entzückend, wenn nicht: total magisch.
So liebe ich es etwa, ein neues Buch aufzuschlagen und in eine neue Geschichte hineinzutauchen. Ich liebe es, die erste Szene eines Films zu gucken und mich auf den Rest zu freuen. Ich liebe es, neue Bekanntschaften zu schließen. Ich liebe es, zum ersten Mal durch eine fremde Stadt zu spazieren. Und ich liebe es, zum ersten Mal etwas aus einem neuen Rezeptbuch zu probieren.
Außerdem, und das mag jetzt vielleicht eine unpopuläre Meinung sein, liebe ich Montage.
Denn was alle diese kleinen Neuanfänge gemeinsam haben, ist doch, dass sie einem das Gefühl geben, dass zumindest für einen kurzen Moment wieder alles möglich ist – und die Karten neu gemischt sind.

„Der ultimative kleine Neuanfang ist für mich daher auch ein offensichtlicher: der neue Morgen.“ -

Manchmal kann ich sogar fast nicht einschlafen, weil ich mich so aufs Aufwachen freue. Nicht weil ich jeden Tag im Ritz in Paris aufwache – sondern weil ich es nach wie vor unglaublich finde, dass ich ein Bewusstsein habe, das jeden Morgen zu mir zurückkehrt – und mir die Chance gibt, die Welt auf ein Neues zu erkunden.
Wenn ich also morgens aufstehe, in die Küche schleiche, den Knopf auf der Kaffeemaschine drücke und zu meinem Nachbarn hinüberschaue, der – wie immer – schon um sechs Uhr morgens am Fenster steht, raucht (eine Sache, mit der er im neuen Jahr vielleicht wirklich aufhören könnte …) und in den lila Himmel guckt, kommt es mir so vor, als wäre der Tag so was wie ein leeres Blatt, das ich beschreiben und bekleckern kann.
Es ist nicht ganz einfach, dieses Gefühl in Worte zu fassen, aber vielleicht sag ich es so: Inzwischen weiß ich zwar, dass ich nicht eines Morgens aufstehe – und plötzlich eine begabte Schauspielerin bin oder eine begnadete Köchin. Alles ist nicht mehr möglich.
Aber ich weiß, dass zum Beispiel eine Stimmung, die sich gestern noch wie eine unumstößliche Wahrheit anfühlte, wie weggeblasen sein kann. Oder ein Text, der mir gestern großen Kummer bereitete, heute in einer halben Stunde aufs Blatt geht.
Das meine ich mit der Magie der kleinen Neuanfänge: Man ist nicht plötzlich eine andere Person. Man ist nicht plötzlich Serena Williams oder Jacinda Ardern. Aber man ist vielleicht eine Person, die in der Lage ist, ein Problem aus einer frischen Perspektive zu sehen. Oder eine Person, die so mutig ist, dass sie heute eine Sache zum ersten Mal versucht. Oder eine Person, die versteht, dass sich jeder Tag wie eine Geschichte anfühlen kann, die man zuerst noch schreiben muss.
Jedenfalls ist mein Mantra nicht New Year, New Me, sondern New Year, Old Me. Und das finde ich wahnsinnig aufregend.
Nina Kunz war bei uns im Live-Buchclub zu Gast, hier kannst du dir die Aufzeichnung des sehr schönen Gesprächs anschauen. Hier findest du einen Text von Nina übers Nichtstun und hier einen Text von ihr zum Thema Workism – definieren wir uns zu stark über unsere Arbeit? Nina Kunz sagt: „Etwas, ja.“
Fotos: Pierluigi Macor

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