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Ich sitze auf einer Treppe, irgendwo im Uni-Gebäude. „Wär ja `ne witzige Geschichte“, denke ich, während ich beobachte, wie ein mir fremder dunkelhaariger Typ durch den Flur schlurft und hinter einer Tür verschwindet, „wenn das mal mein Ehemann werden würde.“ Ich habe ihn nur kurz gesehen. Konzentrierter Blick, wirkt trotzdem freundlich. Ein bisschen kleiner als ich, wenn ich mich nicht täusche.
Keine Ahnung, warum ich ausgerechnet diesen Gedanken habe. Passt er doch so gar nicht zu meiner Situation. Denn zuhause wartet mein Freund. Noch nicht mein Ehemann. Aber der Ring ist nur noch reine Formalität. Wir sind seit zwei Jahren ein Paar. Und seit einigen Monaten bewohnen wir eine kleine Altstadtwohnung. Alles ist klar, alles ist fest. Ein Leben aus Sofaabenden, Samstagseinkäufen, Kloputzen, netten Ausflügen, eingespieltem Sex und gemeinsam gekochten Nudelpfannen.
„Es ist einfach und sicher. Ich weiß genau, wer ich bin. Ich bin die Frau von ...“ -
Für die nächsten Monate arbeitet er im Ausland. Eine Stelle, die ich ihm regelrecht aufgequatscht habe. Zu schön der Gedanke, mal die Wohnung für mich zu haben. Zeit für alte Freundschaften. Und für mich. Erste Hinweise. Ich beachte sie nicht. Als ich ihn schließlich am Bahnhof verabschiede, ist mir leicht. Zuhause angekommen, räume ich drei Tage lang alles um, spreche mit niemandem, höre laut meine Lieblingsmusik und beriesle mich mit seichten Fernsehsendungen. Jeden Abend telefonieren wir.

Nach meinen Einsiedlertagen kehre ich ins aktive Leben zurück. Ich knüpfe an verlorengegangene Freundschaften an und betrete seit vielen Monaten endlich wieder meine Lieblingskneipe. Ich muss fair sein, all das wäre auch mit ihm möglich gewesen. Er war nicht das Hindernis. Ich selbst hatte mich ziemlich ausschließlich über diese Beziehung definiert. Ich bestand aus dieser Partnerschaft. Aus seinem Freundeskreis, seiner Musik, seiner Nudelpfanne. Ein altes Muster. Immer das nagende Gefühl, allein nicht genug zu sein. Nur zu gelten, wenn ich einen anderen reflektiere. In dem Roman „Eat, Pray, Love“ von Elizabeth Gilbert gibt es eine Stelle, in der die frisch von ihrem Mann Steven geschiedene Protagonistin ihren Freund*innen ihren neuen Lover David vorstellt und der Mann einer Freundin ihr halb im Scherz entgegenwirft, es wäre lustig – damals hätte sie ausgesehen wie Steven und heute sähe sie aus wie David. Dieser Satz ging mir damals durch und durch. Denn ich fühlte ihn in jeder Faser. Völlig in einer Beziehung zu verschwinden, sogar äußerlich, war mir alles andere als fremd. Tausche Selbstwert gegen Bessere-Hälfte-Rolle. Nun aber komme ich langsam zu mir zurück. Und merke es nicht. Ich wähne mich sicher. Auf meinem sicheren Weg in meine sichere Zukunft.
„Ich sitze in trockenen Tüchern und habe noch nicht verstanden, wie sehr sie eigentlich scheuern und kratzen.“ -
Irgendwann in diesen Tagen treffe ich einen alten Kumpel wieder. Er fragt mich, ob ich Bock hätte, die Uni-Party mitzuplanen. Und darum sitze ich auf dieser Treppe. Heute ist das erste Meeting. Ich warte auf meinen Kumpel und sehe ihn ein paar Minuten später die Stufen erklimmen. Eine kurze Begrüßung, bevor wir durch die Tür gehen, hinter der dieser Typ von vorhin verschwand. Als wir eintreten, sitzt der Typ auf dem Fensterbrett und tippt irgendwas auf seinem Laptop. Er schaut kurz hoch, stellt sich als Leiter des Planungsteams vor und lächelt mir zu. Von irgendwo ein kleines Pling in der Magengegend.
Es wird eine ergebnisreiche Sitzung. In einer Woche das nächste Treffen. Als es so weit ist, stehe ich zuhause vor dem Spiegel und mustere mich. Das Strickkleid habe ich bewusst ausgewählt. Ich habe mir Gedanken über die passenden Stiefel gemacht. Und im Bad war ich heute auch länger. Mein Handy vibriert. Eine SMS. Mein Freund aus der Ferne. Ein Herzchen am Ende. „Ich antworte später“, beschließe ich, lasse das Telefon in der Tasche verschwinden und laufe in Richtung Universität. Der Abend wird lang. Immer wieder mustere ich den Typen. Dunkelbraune Haare, ein paar Graue schon dazwischen. Grüne Augen. Tatsächlich etwas kleiner als ich. Er sagt nicht viel. Aber jeder Satz kommt mit Bedacht. Auf den Punkt. Er ist aufmerksam. Hört genau zu. Schmunzelt ab und an. Sympathisch, das kann ich nicht leugnen.
„Wo musst du hin?“, fragt er mich, als sich das Treffen auflöst. Ich nenne ihm mein Ziel und wir stellen fest, dass wir fast nebeneinander wohnen. Wir gehen gemeinsam nach Hause. Er schiebt sein Fahrrad neben mir her. Es ist Ende Oktober und das Herbstlaub raschelt unter unseren Füßen. Es wird ein schönes Gespräch. Sofort vertraut. „Ich mag, wie du die Dinge siehst“, sagt er und wir verabschieden uns in unsere Wohnungen. Meinem Freund antworte ich nicht mehr.
Ab diesem Abend gehen wir den Heimweg oft gemeinsam. Die wachsende Schwärmerei in meinem Kopf bemerke ich wohl. Aber ich nehme sie nicht ernst. Weiß ich doch, dass sie mehr nie sein wird. Meine Beziehung, die Wohnung, die Zukunft, die trockenen Tücher – alles ist geregelt.
„Solch ein Versprechen löst man nicht auf. Bei sowas gibts kein Zurück.“ -
Ich fühle mich in eine Ecke gedrängt. Eine Ecke, die ich selbst so sehr wollte und hartnäckig verfolgt habe. Ich wollte mich in dieser Rolle. Ich wollte diese Definition. Ehefrau sein. Überhaupt etwas sein. Ich schiebe die Zweifel zur Seite: „So fühlt man sich wahrscheinlich, wenn es ernst wird.“ Regelmäßig besuche ich meinen Freund in der fernen Stadt. Und während sich früher schon ein Abend ohne ihn wie zäher Kaugummi zog, so ertappe ich mich jetzt bei dem Gedanken: „Huch, schon wieder?“ Wenn wir uns sehen, versuche ich zu fühlen. Mit all meiner Kraft. Ich will das wieder wollen. Es gelingt nur schwerlich, aber mir ist es genug. Alles wird gut.

Die Wochen vergehen, die Schwärmerei nicht. Die Party rückt näher und in mir schnürt sich etwas zusammen bei dem Gedanken, dass es dann vorbei ist. Vorbei die Heimwegsgespräche. Vorbei diese seltsame Vertrautheit. Gespräche, in denen ich zum ersten Mal ganz einfach ich selbst bin. Ohne mich anzupassen. Ohne zu spiegeln. Mittlerweile kann ich die Hinweise nicht mehr ignorieren. Hier ist etwas ganz und gar nicht mehr im Gleichgewicht. Und auch mein Freund riecht den Braten. Seine Nachrichten häufen sich. Seine Anrufe auch. Er fragt genauer. Und plötzlich steht er einfach vor der Tür. Um mich zu überraschen. Es wird ein beschissenes Wochenende. Er spürt die Distanz und fordert umso mehr Nähe. Ich spüre ganz deutlich, dass es nicht mehr stimmt. Dass es nicht mehr passt. Dass ich seit Monaten oder vielleicht schon immer an einem Bild festhalte. An einer Projektion, die nichts mehr mit mir zu tun hat. Mich stört alles. Die Art, wie er läuft. Wie er kaut. Ich bin unfair. Als er wieder fährt, weine ich. Nicht weil ich einen Entschluss gefasst hätte, sondern weil ich weiß, dass ich sicherlich nie den Mut haben werde, es zu beenden. „Das wird jetzt mein Schicksal“, denke ich. „Den Ring werde ich nehmen“, denke ich. „Ich würde es niemals schaffen, ihm so weh zu tun“, denke ich. Die Party kommt. Ich hasse jede Stunde, die vorbeizieht.
„Ich will nicht, dass es aufhört. Dabei hat ja nicht mal etwas angefangen.“ -
Ob der Typ überhaupt etwas ahnt? Ich fühle mich wie in einer schlechten Seifenoper. Irgendwann geht die Sonne auf. Wir räumen auf. Ich bin unendlich müde. Als ich um die Mittagszeit endlich in mein Bett falle, beschließe ich, den Typen zu vergessen und mich wieder in meine trockenen Tücher zu kuscheln. Dann kratzen die halt. Nix ist vollkommen.
Eine Woche später treffe ich ihn zufällig auf einer Geburtstagsparty wieder. Als wir nachts nach Hause laufen, ist da ein Augenblick. Er schreit uns förmlich ins Gesicht. Wir halten uns die Ohren zu. Nein, sowas kann ich nicht machen. Ich habe zwar keinen Mut. Aber Anstand.
Und das ist der Punkt. Am nächsten Tag schreibe ich eine SMS ins Ausland. Schon mit mehr Mut, aber deutlich weniger Anstand. Ein unreifes Ende, das mir bis heute leidtut. Und dann treffe ich den Typen, diesmal mit allem Mut, den ich aufbringen kann. Es folgt ein Kuss. Der erste von ungezählten. Am nächsten Morgen sitzen wir in seiner Studentenbude. „Was jetzt?“, frage ich. „Zieh ein!“, sagt er. Und – just like that – zog ich ein. Mit zwei Koffern. Einer Topfpflanze. Und meinem kleinen Schreibtisch.
Mein Mut kostete mich so einiges. Nicht nur Geld. Aber das auch. Er brachte mir deutliche Zweifel meines Freundeskreises an dieser überstürzten Aktion. Er brachte mir Voraussagungen wie „nur ein Lückenbüßer“. Er brachte mir harte Worte in einem Abschlussgespräch, als ich meinen Anstand schließlich wiederfand. Er brachte mir einen gehörigen Argwohn gegenüber gemütlichen Nestern. Er brachte mir die Schuld an einem gebrochenen Herzen.
„Würde ich mich noch mal so entscheiden? Unbedingt.“ -
Denn mein Mut brachte mir die Erkenntnis, dass wir uns immer wieder verändern können und dass wir kolossal scheitern dürfen, um vielleicht etwas Neues zu finden. Ich selbst fand einen Menschen, der genau zu mir passt. Einen Menschen, aus dem ich bis heute nicht endgültig schlau werde. Einen Menschen, der mir Raum lässt. Für mich selbst. Der jeden Winkel akzeptiert. Ich fand einen Menschen, der mein Zuhause ist, ganz egal, wo wir sind. Einen Menschen, mit dem ich aus Flugzeugen sprang und mit dem ich drei Kinder bekommen habe (glaubt mir, Letzteres ist die weitaus größere Mutprobe). Dem Konzept erst mal abgeschworen, fand ich doch meinen Ehemann. Einen Ring trage ich bis heute nicht.
Und jetzt, ganze zwölf Jahre später, schreibe ich diese Zeilen und spüre immer noch das Kribbeln des Moments. Als ich auf dieser Treppe saß, diesen Typen sah und dachte: „Wär ja `ne witzige Geschichte, wenn das mal mein Mann werden würde.“
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