Vor über zehn Jahren habe ich meinem Vater mal einen Brief schreiben müssen. Es war ein wirklich schwerer Brief, am liebsten wollte ich ihn gar nicht schreiben – und abgeschickt habe ich ihn auch nicht. Er liegt noch heute in einer Schublade. Trotzdem würde ich sagen, dass dieser Brief mein Leben verändert hat. Es war die Idee eines Therapeuten gewesen, meinem Vater einmal alles zu schreiben, was ich mir von ihm gewünscht und nie bekommen habe. Man ahnt relativ schnell, dass es sich bei diesen Wünschen nicht um Puppen und Reitstunden handelte, oder? Ich schrieb den Brief, obwohl ich keine Ahnung hatte, was das bringen sollte. Und obwohl es natürlich eine verdammt traurige Angelegenheit war.
Ich gestand meinem Vater – aber vielmehr noch mir – all die Dinge ein, nach denen ich mich jahrzehntelang vergeblich gesehnt habe. Liebe, Aufmerksamkeit, Lob und Anerkennung. Als ich fertig war, weinte ich fürchterlich und schloss den Brief dann weg. Bis heute hat mein Vater ihn nicht gelesen. Das merkwürdige aber war, dass unsere Beziehung sich danach trotzdem veränderte.
Schritt für Schritt, Jahr für Jahr wurde es einfacher für mich, kam eine ungeahnte Lässigkeit in unseren Umgang. Bis ich irgendwann merkte: Etwas ist anders geworden. Wir haben heute zwar bestimmt nicht das, was man eine gute Beziehung nennt. Aber aus unerfindlichen Gründen haben wir nun eine Beziehung, mit der ich gut leben kann.
Zehn Jahre später – ich sitze gerade einer Hamburger Psychologin und Autorin gegenüber – fällt plötzlich der Groschen. Sandra Konrad hat das Buch „Nicht ohne meine Eltern“ geschrieben. Ein Buch, in dem sie aufklärt, wie viele Menschen auch im Erwachsenenalter noch auf belastende Weise emotional abhängig von ihren Müttern und Väter sind.
Als ich ihr die Geschichte von meinem Brief erzähle, nickt sie wissend. Auch sie rät in bestimmten Fällen dazu, solche Briefe zu schreiben: „Und es ist tatsächlich egal, ob diese Briefe am Ende abgeschickt werden oder nicht. Es geht darum, sich einmal alles unzensiert von der Seele zu schreiben. Welche Sehnsüchte wir haben, welche Bedürfnisse und Wünsche, die Eltern nie erfüllt haben. Es geht darum, die eigenen Verletzungen nicht weiter beiseitezuschieben, sondern das zu betrauern, was nie war und was wahrscheinlich auch nie sein wird.“
„Zum Prozess der gesunden Ablösung gehöre es laut Konrad, irgendwann aufzuhören, sich die Eltern so zu wünschen, wie sie nie waren.“ -
„Anzuerkennen, dass sie das, was wir uns immer gewünscht hätten, offensichtlich gar nicht geben können.“ Diese Erkenntnis sei sehr schmerzhaft, aber eben auch ein Schritt ins Erwachsenwerden. Denn erst, wenn wir falsche Hoffnungen an die Eltern aufgeben, könne die ständige Enttäuschung nachlassen. „Stattdessen können wir beginnen, uns selbst zu versorgen. Unser Leben in die Hand zu nehmen und weniger um die Eltern zu kreisen oder das, was sie uns vermeintlich noch geben sollten.“ Diese neue, reifere Haltung wirke sich dann oft auch sehr positiv auf die Beziehung zu den Eltern aus.
Heute, erst zehn Jahre später, verstehe ich also, was damals passiert ist. Ich habe mich mit diesem Brief von meinem Vater abgenabelt. Eine Hoffnung aufgegeben, aber eben auch aufgehört, willkürlich Dinge zu tun, die ihn vermeintlich stolz machen könnten.
„Wenn man es schafft, sich auf gesunde Weise von solchen Verstrickungen zu lösen, macht das vieles im Leben einfacher.“ Die Psychologin sagt, dass gerade Lob und Anerkennung Themen sind, die in ihrer Praxis oft im Zusammenhang mit Vätern auftauchen. „Ich vermute, dass das daran liegt, dass es eben oft die Väter sind, die die Leistungsaufträge an ihre Kinder stellen.“ Und an dieser Stelle könnte ich einen Strich unter das Interview machen. Mich selbst dafür feiern, wie gut ich die Sache mit meinem Vater verarbeitet habe. Einen schönen, empowernden Artikel daraus machen. Andere ermutigen, sich abzugrenzen, nicht weiter sinnlosen Ansprüchen hinterherzurennen – und erwachsen zu werden.
Aber das reicht mir nicht. Leider. Ich will noch ein bisschen tiefer. Und deswegen frage ich Sandra Konrad dann doch noch aus über das, was mir wirklich auf der Seele brennt. Die Sache mit meiner Mutter. Denn lese ich ihr Buch in Hinblick auf meinen Vater, kann ich mir nur auf die Schulter klopfen. Lese ich das Buch aber in Hinblick auf meine Mutter, knirscht und pikt es an allen Ecken und Enden. Oft habe ich bei ihr das Gefühl, eine schlechte Tochter zu sein.
Sie sagt dazu: „Ablösung kann verschiedene Gesichter haben.
„Es ist eine große Aufgabe, die Erwartungen, die wir an unsere Eltern haben, aufzugeben.“ -
Aber es gibt eben auch die Erwartungen, die unsere Eltern an uns haben. Und sich davon zu lösen ist genauso eine große Aufgabe. Viele Menschen, die in meine Praxis kommen, haben zum Beispiel ein schlechtes Gewissen, weil sie glauben, nicht die Kinder zu sein, die ihre Eltern sich gewünscht hätten.“
Einen Moment lang überlege ich, ob ich der Sache tatsächlich auf den Grund gehen soll. Oder ob man manche Dinge nicht einfach auch mal so lassen kann, wie sie sind. Ich bin mittlerweile über vierzig – ist es nicht irgendwann auch zu spät, um noch an den Beziehungen zu den Eltern herumzudoktern? „Überhaupt nicht“, findet Konrad. „Ich habe viele Klienten, die mit 40, 50, 60 Jahren bewusst beginnen, sich von den Eltern abzulösen. Es gibt da keine Altersgrenze. Man kann beruflich erfolgreich und finanziell unabhängig sein und längst eine eigene Familie gegründet haben und trotzdem noch mit den Eltern verstrickt sein. Aber es ist glücklicherweise nie zu spät, um sich emotionale Verwicklungen mit den Eltern noch einmal genau anzusehen und sich daraus zu lösen.“
Also sehen wir genauer hin. Mit meiner Mutter scheint alles ganz anders zu sein. Fast gegenteilig. Denn statt wie bei meinem Vater der Liebe hinterherzurennen, laufe ich bei meiner Mutter eher weg. Es ist mir unangenehm, das zuzugeben, sogar vor der Psychologin Konrad. Wie oft ich mich in der Nähe meiner Mutter irgendwie unwohl fühle und angespannt, ihre Stimme nicht ertragen kann und ihre Nähe. Und dass ich mich deswegen fühle wie eine schlechte Tochter, denn eigentlich sind meine Mutter und ich uns sehr nah.
Konrad fragt, wie das in der Kindheit war. Und obwohl ich ihr Buch gelesen habe, obwohl ich weiß, dass das eigentlich immer die Frage der Fragen ist, bekomme ich einen Kloß im Hals. Wir sprechen über meine alleinerziehende Mutter, die viel da war, aber manchmal eben auch harte Grenzen zog. Zum Beispiel, als sie sich entschloss, mich als Baby in Deutschland zu lassen, um einen Monat lang nach Australien zu fliegen. Solche Dinge wiederholten sich im Laufe meiner Kindheit. Und eine ganze Weile lang dachte ich, das sei schon irgendwie okay. Wie krass es eigentlich war, wurde mir erst bewusst, als ich selbst vor ein paar Jahren Mutter geworden bin.
„Unvorhersehbare Eltern“ – so nennt Sandra Konrad Mütter und Väter, die immer mal wieder da sind und immer mal wieder weg. Auf deren Liebe und Fürsorge man sich als Kind nie ganz verlassen konnte. Sei es, weil sie tatsächlich physisch, vielleicht aber auch psychisch nicht verlässlich da gewesen sind. Was daraufhin passieren kann, erklärt sie so: „Als Kind lernt man dann: Auf die Menschen, die ich dringend brauche, ist nicht durchgehend Verlass. Dieses wiederholte Alleingelassenwerden ruft Verletzungen hervor. Eine Wunde im Urvertrauen, die tief verunsichern kann. Das Kind verinnerlicht: Auch wenn meine Mutter jetzt gerade für mich da ist, irgendwann wird es ihr zu viel, und sie wird wieder weg sein. Um emotional zu überleben, legt sich das Kind in manchen Fällen deswegen eine unbewusste Schutzschicht zu. Und zwar für den Rest des Lebens. Immer dann, wenn die Mutter Nähe sucht, prallt sie mit dieser Schutzschicht zusammen, die der Tochter signalisiert: Nähe! Gefahr! Vorsicht! Außerdem liegen hinter der Schutzschicht auch all die alten, noch nicht verheilten Wunden, die bei jedem Annäherungsversuch der Mutter wieder aufgerissen werden. Und das fühlt sich nicht gut an, egal wie erwachsen das Kind mittlerweile ist.“
Den immer größer werdenden Kloß im Hals, der sich bildet, während Konrad erklärt, werte ich ausnahmsweise als positives Zeichen. An der Herleitung scheint etwas dran zu sein, wenn sie mich so berührt. Was mache ich also, um dieses Unbehagen nicht mehr zu spüren? Wie kann ich das Verhältnis zu meiner Mutter verbessern? Konrad lächelt. „Diesem Wunsch nach schneller Heilung begegne ich in der Praxis oft.
„Aber die Beziehung verbessert sich nur, wenn man sich vorher ausgiebig um die eigenen Wunden gekümmert hat, die einem in dieser Beziehung zugefügt wurden.“ -
Tut man das nicht, ist es, wie wenn man den zweiten Schritt vor dem ersten macht. Es wird langfristig nicht funktionieren.“
Wie es funktioniert, wie man sich um seine Wunden kümmert, beschreibt Sandra Konrad in ihrem Buch sehr ausführlich. Vereinfacht gesagt beobachtet man, in welchen Situationen man sich mit den Eltern unwohl fühlt. Dann fragt man sich, wie alt das Kind ist, das in einem selbst da gerade reagiert – und was dieses Kind gerade braucht. Im nächsten Schritt versucht man, diesem inneren Kind genau das zu geben. Konrad formuliert es so: „Diese kindlichen, bedürftigen, verletzten Anteile melden sich auch heute immer dann, wenn alte Wunden getriggert werden. Unsere Aufgabe ist es, uns ihnen liebevoll zuzuwenden, sodass sie sich sicher fühlen und die alten Verletzungen Schritt für Schritt heilen können. In der Therapie nennt man das sich selbst nachbeeltern. Je besser unsere kindlichen Anteile von uns versorgt werden, desto eher können wir sie integrieren. Sie beruhigen sich dann und reifen nach.“
Klingt nach ganz schön harter Arbeit. Und das ist noch nicht einmal alles. Jetzt nämlich, ganz zum Schluss, wenn man die eigenen Wunden gut versorgt hat, so Konrad, kann man sich dem Elternteil zuwenden, das diese Wunden verursacht hat. Und sich überlegen: Warum war zum Beispiel meine Mutter so? Was war in ihrer eigenen Kindheit los, dass sie später so gehandelt hat? „Wenn man sich seine Eltern als kleine Kinder mit eigenen, vielleicht auch schwierigen oder verletzenden Erfahrungen vorstellt, bekommt man meistens einen viel milderen Blick auf diese Menschen. Und erkennt oft, dass sie uns schon die besten Eltern waren, die sie eben sein konnten, auch wenn das für uns nicht immer gut genug war.“
Alles, was Sandra Konrad sagt, klingt logisch und nachvollziehbar. Aber es klingt auch – und das sage ich ihr – wahnsinnig anstrengend. Sie hat allerdings nie behauptet, dass es einfach wäre. In ihrem Buch beschreibt Konrad die emotionale Abnabelung von Vater und Mutter als eine der schwierigsten, aber auch wichtigsten Aufgaben unseres Lebens.
„„Ohne Ablösung können wir kein selbstbestimmtes, zufriedenes Leben führen“,“ -
erklärt sie und fährt fort: „So viele Menschen haben Leidensdruck, weil sie Schwierigkeiten in all ihren Beziehungen – nicht nur mit ihren Eltern haben. Und diese Beziehungsschwierigkeiten beruhen halt oft auf der mangelnden Ablösung von den Eltern und den familiären Mustern, in denen wir gefangen sind. Ein typischer Zeitpunkt, an dem viele Menschen eine Therapie beginnen, ist, wenn sie selbst Eltern werden und plötzlich darüber nachdenken, was sie weitergeben wollen – und was nicht. Dann wird die Motivation größer, an einigen Stellen vielleicht doch noch mal genauer hinzuschauen.“
Und was ist mit der Angst? All diese emotionale Arbeit, dieser Schmerz, durch den man geht, wenn man diese Verletzungen aus den Untiefen seiner Kindheit ausbuddelt? „Angst und Widerstand, sich solchen Themen zu widmen, sind verständlich. Aber ich versichere: Das, was hochkommt, ist oft nicht so schlimm wie das, was unterdrückt wird. Vor allem, wenn man jemanden hat, der einen dabei begleitet.“
Ganz ehrlich? Ich weiß nicht, ob ich das gerade will. Ob ich das kann. Für einen simplen Neujahrsvorsatz scheint mir die Sache ganz schön anspruchsvoll. Aber: Wenn jede Reise mit einem ersten Schritt beginnt, könnte ich erst einmal damit anfangen, mich in schwierigen Situationen selbst zu beeltern, wie Konrad es so schön nannte. Heißt, das Kind in mir immer mal wieder liebevoll und unterstützend in den Arm zu nehmen. Das klingt absolut machbar fürs neue Jahr. Und der Rest? Steht erst mal in den Sternen.