Gefühle & Gedanken
Hochbegabt? Ich?
Juliane Gringer zählte immer zum Durchschnitt, bis sie mit 41 Jahren einen außergewöhnlich hohen IQ diagnostiziert bekam. Das erklärt so einiges.
von Juliane Gringer - 01.04.2023
Den Text gibt es auch als Audio-Artikel, zum Anhören und Downloaden einfach hier klicken.
„Sie reden ja ziemlich schnell und haben sehr viele Gedanken im Kopf“, sagt eine Therapeutin im Herbst 2022 zu mir. „Sie denken offenbar sehr komplex und sehen viele Verbindungen. Wenn andere hier zwei bis drei Themen mitbringen, sind es bei Ihnen eher zehn.“ Es ist eine der ersten Stunden mit ihr. Ich habe die Therapie angefangen, weil es mich nervt, dass ich mich in Stressphasen immer wieder selbst verliere, durcharbeite, auf Achtsamkeit pfeife und das sich anschleichende Gefühl von Überforderung mit Duracell-Geschwindigkeit im Alltag und Salted-Caramel-Schokolade überpinsle. Sie fragt mich: „Haben Sie schon mal in Richtung ADS, Hochsensibilität oder Hochbegabung gedacht?“ What?

„Auf eine echte Diagnose war ich nicht gefasst – ich dachte, wir sprechen einfach ein bisschen über Selbstfürsorge.“ -

Als ich Symptome zu den drei Begriffen google, fühlt sich jedoch nichts davon passend an: Für ADS kann ich mich viel zu gut konzentrieren. Sensibel bin ich schon ein bisschen, aber nicht so, dass mich Sinneswahrnehmungen überfordern, wie es in Artikeln dazu beschrieben wird. Und Hochbegabung? Haha, auf keinen Fall. Ich war weder ein Überfliegerin in der Schule noch habe ich Geige gespielt oder schon in der Kita das kleine und große Einmaleins aufgesagt. Ich kam zwar gut durchs Gymnasium, aber eher im „1- bis 2+“-Bereich als im „Strebermodus“. Die Streberin des Jahrgangs, das war meine beste Freundin: Fast immer volle Punktzahl, Lernen gab ihr offenbar einen Kick und fiel ihr superleicht. Bei ihr hätte ich ganz klar gesagt, die hat bestimmt einen hohen IQ. Aber ich selbst sicher nicht – das hätte ich ja wohl merken müssen!?
Auf einer Liste mit Merkmalen von Hochbegabung bei Erwachsenen finde ich mich aber doch wieder. Erst zweifle ich: „schnelle Auffassungsgabe“ – ja, aber haben die nicht viele? „Zusammenhänge rasch erkennen und verschiedene Perspektiven einnehmen können“ – klar, aber braucht man dazu einen hohen IQ? „Viele Ideen und kreativ“ – yes, nur könnte das ja auch an der Persönlichkeit, Erziehung und Bildung liegen. „Komplizierte Aufgaben fallen eher leicht, dafür können einfache Aufgaben eine Herausforderung sein“ – zählt es hier, dass ich Hausarbeit langweilig finde? Am Ende ist es dann aber doch die Menge der „Stimmt, trifft durchaus zu“s, die ich hinter Stichworte wie „starkes Einfühlungsvermögen“, „hohe Reizempfindlichkeit“, „starke Emotionen“, „hohe Ansprüche an Freundschaften und Beziehungen“, „vielseitige Interessen“, „häufig schneller Einstieg in tiefe Gespräche“ oder auch „Zweifel an den eigenen Fähigkeiten“ setzen kann, die mich neugierig machen: Ich traue mich, einen Termin bei einer Begabungsdiagnostikerin zu machen.
Das sind niedergelassene Psycholog*innen, die sich auf IQ-Tests spezialisiert haben. Im Wartezimmer der Praxis liegt eine Grafik, die die Verteilung der Intelligenz in der Bevölkerung zeigt: Man geht davon aus, dass sie der „Gaußschen Normalverteilung“ entspricht, mit der in der Wahrscheinlichkeitsberechnung beschrieben wird, wie oft etwas vorkommt.

„Demnach gilt ein IQ von 100 als der Durchschnitt, der Normalbereich liegt zwischen 85 und 115. Rund 70 Prozent der Bevölkerung sind dort zu finden.“ -

Einen IQ über 130 haben nur zwei Prozent der Menschen, sie gelten als hochbegabt. Einen Wert über 135 erreicht sogar nur ein Prozent. Ich denke: Okay, ganz doof bin ich ja nicht, wenn es richtig gut läuft, könnte ich mir irgendwas knapp über 120 eventuell vorstellen – mehr ganz sicher nicht. Und die genaue Zahl will ich eigentlich auch gar nicht kennen. Was würde es mit mir machen, wenn er eher niedrig ist? Aber warum bin ich dann hier? Ich denke, ich hatte mir erhofft, dass sie mir sagt, dass ich sicher eher schlau bin, aber dass man das für diese Erkenntnis nicht messen muss. Und mich vielleicht zur Diagnostik zu ADS und Hochsensibilität weiterschickt. Oder am besten sagt: „Alles okay, bauen Sie sich einfach eine vernünftige Morgenroutine auf!“
Sie fragt ein paar Dinge zu meinem Werdegang ab und erklärt dabei zum Beispiel, dass man eben keine Überfliegerin in der Schule gewesen sein muss, wenn man einen hohen IQ hat. Ich traue mich am Ende also doch, den Test zu machen, er findet schon knapp eine Woche später statt. In der Zeit bis dahin denke ich immer wieder, was für eine richtig bescheuerte Idee das doch ist. Was soll ich mit dem Ergebnis anfangen? Und die Diagnostik kostet inklusive Vor- und Nachgespräch 460 Euro – wieso gebe ich so viel Geld dafür aus? Was bilde ich mir überhaupt ein, einen IQ-Test zu machen?
Dabei bilde ich mir gar nichts ein. Denn nach zwei Stunden Aufgaben aus den Bereichen Sprache, Mathematik, räumliches Vorstellungsvermögen und logisches Denken schreibt die Diagnostikerin da diese Zahl unten auf das Blatt: 136. Bämm! „Das ist viel, oder?“, frage ich zögernd. „Ja“, ist ihre knappe Antwort und sie lächelt mich an. „Hatte ich das schon immer?“ – „Ja, Intelligenz ist eines der stabilsten Persönlichkeitsmerkmale“, erklärt sie.

„Shit: Ich bin hochbegabt und habe es 41 Jahre lang nicht gecheckt? Das klingt wie ein verdammt schlechter Witz.“ -

Ich fühle mich, als hätte das Ergebnis in mir ein innerliches Flutlicht angeknipst. Das scheint auf viele Dinge in meinem Leben, die für mich immer ganz normal schienen, über die ich aber auch ein bisschen irritiert war. Zum Beispiel, warum ich lieber stundenlang mit Freundinnen Deep Talk mache, als um die Häuser zu ziehen, mir ganz schön viele Sorgen mache, viele Dinge in kurzer Zeit erledigen kann und mit meinem Mann schnell streite, wenn er irgendwas zu langsam macht und ich ungeduldig bin. Das alles hat selbstverständlich nicht nur mit meinem IQ zu tun, aber die Zahl ist vielleicht ein Baustein, der mir hilft, mich besser zu verstehen. Natürlich zweifle ich aber auch am Ergebnis selbst: Schaut jemand mit so einem IQ Trash-TV, kann nicht wirklich gut im Kopf rechnen oder vergisst regelmäßig, wo sie gestern das Auto geparkt hat? Ja, tut sie.
Ich bin ein bisschen geschockt und gleichzeitig total on fire, mein Gedankenkarussell fährt auf Höchststufe. Es schießen mir immer wieder Szenen aus meiner Vergangenheit in den Kopf, etwa aus der Schulzeit, dem Studium, im Job oder auch privaten Situationen. Die große Überschrift: „Warum habe ich das nicht eher gemerkt?“ Es mischen sich viele Aha-Momente hinein, ich fühle mich gesehen und erkannt, dazu kommt Traurigkeit über vielleicht verpasste Chancen. Aber vor allem:

„Ich bin ein bisschen wie frisch verknallt in mich selbst – eben als würde ich mich gerade ein Stück weit neu kennenlernen.“ -

Wer verknallt ist, ist ja bekanntlich ein bisschen drüber. Mein IQ-High verläuft recht milde, aber durchaus albern: Als ich mir sexy Unterwäsche kaufe, kommentiere ich das gegenüber meiner besten Freundin per WhatsApp: „Jetzt, wo ich offiziell schlau bin, muss ich besonders darauf achten, nicht auch so auszusehen …🔥 🤓.“ Meinen Mann frage ich kichernd, ob wir nicht vielleicht ab jetzt auf Latein miteinander sprechen wollen (weil wir das beide in der Schule hatten – und gehasst haben). Als ich mit meiner neunjährigen Tochter in ein Keramikmalstudio gehe, pinsle ich kurzerhand die Zahl 136 auf eine Tasse – in dem Moment finde ich es wahnsinnig witzig, während ich mich gleichzeitig natürlich schäme, weil man sich doch darauf nichts einbilden darf. Aber diese Ziffern, auf der Keramik eingebrannt, erinnern mich auch daran, dass es einfach so ist: Es gibt eine ganz einfache biologische Erklärung für viele Teile meines Erlebens.
Ich hatte auch der Diagnostikerin erzählt, dass ich öfter irritiert bin, wenn andere Menschen Themen kaum hinterfragen oder offenbar weniger neugierig sind, aber dass ich mir dann selbst blöd vorkomme, weil ich ja oft auch gar keine Antworten auf meine Fragen habe, oder dass ich mich beispielsweise wenig für Politik interessiere und mich dann schäme, wenn ich bei solchen gesellschaftlich wichtigen und vermeintlich klugen Dingen gar nicht richtig tiefgründig mitreden kann – und dass ich dadurch das Gefühl habe, dass ich mich zwar mit sehr vielen Sachen beschäftige, aber nichts davon „richtig“ weiß und kann, anders als beispielsweise eine Wissenschaftlerin, die ein Thema völlig durchdringt, oder ein politisch interessierter Mensch, der alle Hintergründe zu aktuellen Nachrichten kennt. Als Texterin weiß ich, dass dieser letzte Satz viel zu lang war, und würde ihn normalerweise jetzt teilen und deutlich kürzer fassen. Aber er zeigt vielleicht ganz gut, wie ich häufig denke: Mir geht einfach ’ne Menge durch den Kopf!
Ich kann das zwar alles sehr gut sortieren, verständlich aufschreiben und formulieren. Aber wenn solche Gedanken in Gesprächen ungefiltert aus mir heraussprudeln, kann es schnell passieren, dass mein Gegenüber zu Recht irritiert ist. Die Diagnostikerin hat einen Satz gesagt, der sich mir eingebrannt hat:

„„Vielen Menschen ist ihr Alltag einfach genug, die haben nicht den Drang, alles zu hinterfragen.““ -

So hatte ich das noch nie gesehen. Und ­– vielleicht typisch Frau? – immer mich abgewertet und gedacht, ich sei „zu viel“ mit meinen Zweifeln und Ideen im Kopf. Auf Instagram sehe ich ein Posting von Laura Malina Seiler, die schreibt: „Wer war ich, bevor ich geglaubt habe, ich bin falsch?“ Warum sind wir so hart mit uns? Und wie oft gibt es vielleicht eine ganz einfache Erklärung für Dinge, für die wir uns abwerten?
Es ist eine Zahl und gleichzeitig eben auch eine Diagnose: Ein hoher IQ beschreibt eine starke kognitive Leistungsfähigkeit. Menschen mit hohem IQ erkennen schnell Zusammenhänge und können leichter Probleme lösen – das ist super. Aber sie befinden sich auch mental oft auf einem höheren Erregungsniveau, eben weil ihnen so viel durch den Kopf geht. Ihr Hirn braucht Futter und das sollte besser aus Informationen bestehen denn aus Salted-Caramel-Schokolade. Dass ein Gehirn mit hohem IQ ziemlich schnell funkt, passt an vielen Stellen nicht zu dem Tempo der Welt, die verständlicherweise und völlig zu Recht für den Durchschnitts-IQ gemacht ist. Deshalb können sich hochbegabte Kinder und Jugendliche in der Schule schnell langweilen. Zum Glück gibt es bei Podcasts die Option, die Abspielgeschwindigkeit zu erhöhen: Bei mindestens 1,5-fachem Speed kann ich mich viel besser auf das Gesagte konzentrieren, die normale Geschwindigkeit ist oft anstrengend für mich. Wäre super, wenn man das auch bei Job-Meetings machen könnte …
Wenn Hochbegabung nicht gesehen und ausgelebt wird, kann sie sogar krank machen und zu psychischen Störungen führen. Wenn sie aber erkannt und gut begleitet wird, liegt darin sehr viel schönes Potenzial. Vor allem für Frauen! Das Phänomen der spät erkannten Hochbegabung, wie ich es erlebe, trifft vor allem sie – wenn ihre Cleverness überhaupt erkannt wird. Nur einer von drei IQ-Tests wird mit Frauen durchgeführt. Schon in der Schule kommt man bei Jungs häufiger auf die Idee, dass sie hochbegabt sein könnten, auch wenn sie im Unterricht durch Stören und Verweigerung auffallen, weil sie sich langweilen. Hochbegabte Mädchen können genauso unterfordert sein, machen das aber meist stärker mit sich aus, ziehen sich zurück, entwickeln ein eher schwaches Selbstbewusstsein. Deshalb wird bei ihnen Hochbegabung seltener erkannt.
Ich selbst habe es auch nicht nur bei mir, sondern genauso bei meiner Tochter nicht gesehen. Da sie sich mit dem Lesen und Schreiben in der Grundschule eher schwertut, während ihr drei Jahre älterer Bruder gerne über die Unterschiede zwischen Teleportieren und Beamen plaudert, hätte ich ganz ehrlich gedacht, dass eher er, aber nicht sie hochbegabt ist. Wir haben direkt auch beide Kinder testen lassen: Sie haben ebenfalls einen hohen IQ – und der meiner Tochter ist sogar noch etwas höher als der meines Sohnes. Ich freue mich für die beiden, dass sie es nun wissen und damit weiter groß werden. Auch wenn ich ganz sicher niemals die Mutter sein wollte, die Lehrer*innen erzählt, dass ihr Kind hochbegabt sei: Dieses Klischee ist jetzt unsere Familienrealität!

„Natürlich treibt mich die Frage um, was ich anders gemacht hätte, wenn ich es früher gewusst hätte.“ -

Beruflich hätte ich vielleicht mehr ausprobiert. Auch sonst hätte ich mir wahrscheinlich mehr zugetraut. Aber grundsätzlich hätte ich vieles ähnlich entschieden, denke ich. Im ersten Teil des Intelligenztests sollte ich jedoch aus zweifarbigen Würfeln Figuren nachbauen, hab die höchste Punktzahl erreicht und die Diagnostikerin meinte: „Oh, das war gut. Vielleicht hätten Sie Architektin werden sollen?!“ Autsch. Heute fange ich wohl kein Architekturstudium mehr an ...
Das Gefühl, Chancen verpasst zu haben, ist doof. Aber das hat man ja sowieso – aus welchen Gründen auch immer man Dinge nicht gemacht hat. Und mein jetziger Job war wahrscheinlich keine schlechte Wahl: Als freie Autorin und Texterin kann ich recht unabhängig arbeiten, mir meinen Tag gestalten und bin inhaltlich herausgefordert. Ein Job in der Verwaltung wäre wohl schwieriger gewesen. Dass ich nicht Astrophysik studiert oder promoviert oder acht Sprachen gelernt habe, bereue ich aber nicht – ich bin ja auch mehr als die Geschwindigkeit meines Gehirns und ein hoher IQ ist keine Verpflichtung.
Was hat der Test also verändert? Nichts und alles. Das vielleicht Wichtigste:

„Ich bin mir meiner selbst stärker bewusst.“ -

Mit dem Ergebnis bin ich mir selbst ein bisschen fremd und gleichzeitig so nah wie vielleicht nie zuvor. Ich merke, wie wichtig es ist, sich selbst wirklich zu kennen. Und gute Freund*innen zu haben, die mich mit all meinen Eckdaten lieben. Das Wissen um meinen IQ beschert mir eine große Portion „Bock auf mehr“: mehr wissen, mehr ausprobieren, sich mehr erlauben. Und wann immer man so einen Impuls bekommt, egal aus welcher Ecke, sollte man dem ja wohl dringend folgen. Ich schreib es mir groß über alle meine To-do-Listen: Trau dir selbst und trau dir mehr zu!
Eure
Juliane
PS: Du willst auch einen IQ-Test machen? Mensa, der größte Verein für Hochbegabte in Deutschland, bietet regelmäßig Gruppentests an, an denen du für 60 Euro teilnehmen kannst. Wer die „Klausur-Situation“ nicht mag oder beispielsweise der Überzeugung sei, er*sie könne Mathe nicht, ist in einer 1-zu-1-Diagnostik wahrscheinlich besser aufgehoben. Eine Übersicht über Coaches und Testpraxen gibt es zum Beispiel hier.

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