Immobilien & Wohnen
Die Haustour
Zu Gast in der Wohnung von Mirna Funk, die mit radikalem Minimalismus für Klarheit und Ruhe sorgt.
von Mirna Funk - 30.03.2020
Diesen Text gibt es auch als Audio-Artikel. Zum Hören ans Ende des Artikels scrollen.
Ich bin kein Horter. Das war ich schon vor Corona nicht. Ich horte nicht nur keine Lebensmittel, sondern auch keine Objekte. Sentimentalitäten gehen mir völlig ab. Ich kann sogar die selbstgemalten Bilder meiner Tochter, ohne mit der Wimper zu zucken, wegschmeißen.
Mein Kleiderschrank misst 120x120 Zentimeter. Alles, was ich ein Jahr lang nicht getragen habe, verkaufe ich über Instagram. In meinem Wohnzimmer gibt es zwei kleine Sideboards, die jeweils 90x50 Zentimeter groß sind. Ordner haben darin Platz, Briefumschläge und ein Drucker. So komme ich nie in die Verlegenheit, zu viel Mist anzusammeln, den ich sowieso nicht brauche. Schließlich habe ich keinen Stauraum dafür.
Ich lasse gerne radikal los und fühle mich danach viele Kilo leichter. Alle sechs Monate nehme ich große blaue Müllsäcke in die Hand und entleere meine Wohnung. Übrig bleibt nur, was wirklich lebensnotwendig ist.

„Alles andere versperrt unsere Sicht, macht uns schwer, hält uns auf.“ -

Dass ich so denke, mag daran liegen, dass ich selbst früh radikalen Ausnahmezuständen ausgesetzt war. Als ich neun Jahre alt war, fiel die Mauer. Bis dahin hatte ich in der DDR gelebt. Ohne Barbie, Gummibärchen und Coca-Cola. Dafür mit Reisebeschränkungen, der Staatssicherheit und Menschen, die sich gegenseitig bespitzelten.
Für viele bestimmt unvorstellbar. Für mich aber Normalzustand.
Mit der Wende kamen neue Regeln, Gesetze und Moralvorstellungen. Jene, denen es möglich war, sich blitzschnell an das neue System anzupassen, trugen die wenigsten Verwundungen davon. Was diese Personen ausmachte, war ihr Wissen darum, dass Wahrheit immer relativ ist. Weder die DDR hatte sie für sich gepachtet noch die BRD.
Diese zwei politischen, aber auch gesellschaftlichen Systeme, die ich in den ersten zehn Jahren meines Lebens kennenlernen durften, lehrten mich:

„Wahrheit ist die Bewegung zwischen zwei sich widersprechenden Positionen.“ -

Sie ist beweglich, nicht statisch. Sie ist grau, nicht schwarz oder weiß. Und sie ist niemals absolut oder autoritär. Sie weiß um ihre eigene Fehlbarkeit. Zweifel ist ihr Aggregatzustand. Wer behauptet, sie zu besitzen, irrt.
In dem Kinderzimmer meiner Tochter steht ein kleines Regal mit Büchern und zwei Schuhkartons mit Spielsachen. Darin befinden sich lediglich Tierfiguren, Barbies und Legos. In einer Ecke gibt es einen Spielesack mit Tüchern, Haarkränzen und Prinzessinnenkleidern. Dass sie so wenig hat, liegt unter anderem daran, dass ich kaum Spielsachen kaufe.

„Im ersten Lebensjahr musste sich Etta mit Topfdeckeln, Kochlöffeln und Dingen begnügen, die rumlagen.“ -

Danach konzentrierte ich mich darauf, Sachen zu kaufen, aus denen sie etwas Neues schaffen konnte. Wir, die Erwachsenen, definieren ein Objekt als Gegenstand zum Spielen. Kindern ist sowas allerdings völlig egal.
Vor ein paar Wochen habe ich zusammen mit meiner Tochter den Inhalt ihrer zwei Schuhkartons und ihres Spielsachensacks sowie etliche Bücher auf dem Boden verteilt und alles aussortiert, was nicht mehr altersentsprechend war oder was sie glaubte, entbehren zu können. Ich habe gesagt, „Wir machen jetzt Platz für Wesentliches und geben ab, was wir nicht mehr brauchen. Ein anderes Kind wird sich darüber freuen.“ Das fand sie toll und griff besonders beherzt in ihre Sachen.
Dann brachten wir gemeinsam die bis oben gefüllte Tragetasche nach unten auf den Gehweg, legten einen Zettel darauf ab, „Zum Verschenken“, und gingen zurück in die Wohnung. Nach einer Stunde – wir schauten immer mal wieder aus dem Fenster – war sie weg.

„Danach vermisste sie keinen einzigen Gegenstand.“ -

Aber vielleicht hatte es auch damit zu tun, dass ich ihr die Verantwortung dafür übergeben hatte. Sie war sozusagen in charge gewesen, auch wenn ich den Prozess für die Loslösung von allem Unwichtigen angestoßen hatte. Sie war es, die entscheiden durfte, was sie nicht mehr brauchte und was das andere Kind kriegen sollte.
Auch der aktuelle Ausnahmezustand wird irgendwann vorbei sein. Dinge, von denen wir glaubten, sie sind richtig, werden rückblickend möglicherweise widerlegt. Wenn wir uns zu sehr an diese vermeintlichen Wahrheiten klammern, wird es uns schwerfallen im richtigen Moment loszulassen, um glücklich und frei weiterleben zu können.
Uns gehört keine Wahrheit, kein Subjekt und auch kein Objekt. Besitzdenken beschwert den Geist. Auch, weil es uns von unserer Intuition entfernt, die meistens den richtigen Riecher hat. Also nutzt die oktroyierte Ruhe: Lasst alles los, was ihr nicht notwendigerweise zum Leben braucht. Und nehmt diese Erkenntnis mit in die neue Zeit, die bald anbrechen wird.
Portrait: Robert Rieger, Wohn-Bilder: Mirna Funk

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