Wonach ist dir heute?

Als ich das erste Mal auf einer Beerdigung war, war ich fünf Jahre alt. Ich saß in einer gefliesten Trauerhalle, hinter mir hörte ich meine Tante weinen. Meine Schwester und ich saßen neben unserer Mutter stumm auf einer Bank in der ersten Reihe. Ich habe nicht begriffen, dass in der Holzkiste vor uns mein Vater lag und dass wir ihn niemals wiedersehen werden. Was es bedeutet, tot zu sein, hat uns damals niemand erklärt.

Katja Seydel vom Bestattungsunternehmen Lebensnah hätte die Beerdigung für den Vater von fünf Kindern anders gestaltet. Bei ihr hätten wir unseren toten Papi vor der Trauerfeier nochmal sehen und seine Urne mit bunten Stiften bemalen dürfen, bevor sie in der Nordsee versenkt wurde. Vielleicht hätte sie bei der Feier eine Platte von Santana oder Black Sabbath aufgelegt, oder einfach Meeresrauschen, weil er es so geliebt hat.

Die Sonne scheint auf den Gehweg in der Seelower Straße 5 im Prenzlauer Berg. Das Ladengeschäft im Erdgeschoss könnte ein Yoga- oder Kosmetikstudio sein, so freundlich wirkt das große Schaufenster mit dem weißen Logo und rosafarbenen Hortensien. Wer stehen bleibt und sich die Dekoration genauer anschaut, der stutzt: Eine Kirche, Friedhof mit Grabsteinen und Leichenwagen aus Legosteinen. Ah, doch kein Yogastudio.

Das Bestattungsunternehmen wurde 2014 von dem ehemaligen Musikmanager Eric Wrede in Berlin gegründet. Vor gut einem Jahr erschien sein Buch “The End – Das Buch vom Tod“. Der gebürtige Rostocker spricht in den Medien darüber, wie er unsere steife Trauerkultur verändern möchte. Beerdigungen sollen jünger, individueller und moderner sein – und keine unpersönliche Veranstaltung, die den Abschied von einem geliebten Menschen noch schwerer macht, als er ohnehin schon ist. Dabei hilft ihm seine Lebensgefährtin und Mutter der gemeinsame Tochter (1): Katja Seydel.

Wenn man die 34-Jährige kennenlernt, denkt man sofort: “Wie bitte, die ist Bestatterin?” Sie ist eine hübsche, zierliche Frau. Die Haare trägt sie zu einem Knoten gebunden, der Pullover ist schwarz, ihr Kleid darunter knallbunt gemustert. Über dem Stuhl hängt ihr neuer Leopardenmantel aus Fake Fur. Aus einem Händedruck macht sie bei unserem ersten Treffen eine Umarmung. “Anfangs will niemand hier her”, erzählt Katja. “Aber so bald die Leute bei uns im Laden stehen, sind sie erleichtert. Wir reden ganz normal mit ihnen.”

Die Berlinerin ist eine Quereinsteigerin. Davor hat sie als Texterin in einer Werbeagentur gearbeitet. Irgendwann kam sie an einem Punkt, an dem sie sich eine Veränderung wünschte. “Es war ein guter Job, nur an diesem Ort und an dieser Stelle ging es für mich nicht weiter.” Sechs Monate gönnte sie sich einen Leerlauf, um die innere Stimme wieder hören zu können. In dieser Zeit lernte sie auf einer Party den Bestatter Eric kennenlernen. “Da hatte ich plötzlich einen Aha-Effekt und dachte: ‘Bestatten ist doch total toll.'”

Sie begann bei Lebensnah zu hospitieren und fuhr mit, wenn Eric einen Verstorbenen aus einem Hospiz abholte oder zu einer Einäscherung musste. Aus dem Ausprobieren wurde ein offizielles Praktikum. Danach entschloss sich Katja, offiziell in der Firma anzufangen. Man muss keine Ausbildung machen, um Bestatter zu sein. Für ihr eigenes Fundament absolvierte Katja trotzdem ein halbes Jahr lang eine Ausbildung zur ehrenamtlichen Sterbe- und Trauerbegleiterin bei der Stephanus-Stiftung. Sie wollte lernen: Was ist Sterben, was ist Tod, was ist Trauer? “Dieser Beruf hat mich gefunden, nicht andersrum”, sagt sie. In Eric verliebte sie sich erst später.

Ihre Freunde und Verwandten reagierten wenig überrascht, als sie von ihrem neuen Job erzählte. “Das passt zu dir.” Nur ihre Omi machte sich Sorgen: “Dann bist du den ganzen Tag nur von traurigen Leuten umgeben.” Laut Katja ist das aber genau andersrum. “Ich bin immer wieder erstaunt, wie stark die Menschen sind, die zu uns kommen.” Sie spricht ruhig und wählt ihre Worte mit Bedacht. Sie ist es gewohnt, sich auf Menschen einzustellen, die eine harte Zeit durchmachen. Wo anderen die Worte fehlen, die meisten Sorge haben, einen Fehler zu machen und sich wegducken, ist sie die erste Ansprechpartnerin. “Ich bin die helfende Hand, die dich durch die Trauer führt und dich auf diesem Weg begleitet”, beschreibt sie ihre Aufgabe. “Dafür sind die Leute unglaublich dankbar. Die Wertschätzung meiner Arbeit hat mir früher gefehlt.”

Als Frau geht sie viele Dinge intuitiv an. Das Bestattungs-Business ist nach wie vor eine Männerdomäne.

“Auf den Friedhöfen ist alles sehr männlich: Die Gärtner, Träger, Feierhelfer, Pfarrer oder Pastoren sind alles Männer. Keiner erwartet eine junge Frau als Bestatterin.” Lebensnah ist – bis auf den Chef – ein reiner Frauenbetrieb. Es ist kein einfacher Job, den Katja und ihre Kolleginnen machen, aber einer, der gebraucht wird. Und zwar von der ganzen Familie. So widmet sich Lebensnah besonders Kindern und Jugendlichen, die jemanden verloren haben: Opa, Oma, Mama, Papa oder ein Geschwisterkind. “Je früher man die Kinder an die Hand nimmt und den Tod erklärt, desto schneller begreifen sie ihn. Wir zeigen den Kindern deshalb einfach mal, was ein Sarg ist und wie die Matratze darin aussieht”, erzählt Katja.

Wer möchte, kann bei Lebensnah mitkommen, wenn die Toten gewaschen, frisiert und angezogen werden. “Du weißt doch viel besser, wie sich deine Mami oder Oma frisiert hat, als ich”, sagt Katja. Sie meint es so pragmatisch, wie sie es sagt. Vor der Beisetzung kann man in Ruhe alleine Abschied nehmen oder mit ins Krematorium kommen, wenn der Leichnam verbrannt wird. Wer möchte, lässt sich danach aus der Asche eine Schallplatte mit den Lieblingssongs pressen oder trägt eine Haarsträhne des Partners in einem Amulett um den Hals.

Gut zu wissen: Wenn kranke und ältere Menschen zu Hause sterben, ruft man am besten den Hausarzt an, der den Krankheitsverlauf kennt und einen natürlichen Tod bescheinigt. Man darf einen Toten bis zu 36 Stunden zu Hause behalten. Das hilft vielen Angehörigen den Tod zu begreifen und Abschied zu nehmen. Katja rät: “Das Fenster aufmachen, eine Kerze anzünden und sich dazu setzen.” Wenn man Katja Seydel gegenübersitzt, verliert die Angst vor dem Sterben und Gevatter Tod ein bisschen von ihrem unsäglichen Schrecken.

Das Ende steht uns allen bevor – und zu wissen, dass sich am Ende des Weges Menschen wie Katja um uns und unsere Familie kümmern, ist irgendwie beruhigend. Und trotzdem ist keiner von uns darauf eingestellt, dass wir alle irgendwann mal eine Beerdigung brauchen. In einem Trauerfall überlassen wir alles einem Fremden, der weder uns, noch die Familie kennt. Das ist irrwitzig, wenn man bedenkt, wie wichtig es uns ist, zu Lebzeiten alles durchzuorganisieren. Wir stylen unsere Wohnungen vom Lichtschalter bis zur Müslischale durch, kaufen die dazu passenden Turnschuhe, Kinderwägen und Bio-Limo. Vor dem Urlaub wird jedes Hotel und Restaurant auf seine positiven wie negativen Bewertungen gecheckt, so machen wir es auch bei Ärzten oder zukünftigen Arbeitgebern.

Wir überlassen nichts dem Zufall. Aber wenn einer stirbt, hat keiner eine Ahnung von nichts.

An was sollen sich unsere Hinterbliebenen erinnern, wenn wir mal nicht mehr sind? Der Tod macht uns so große Angst, das wir ihn komplett aus unserem Leben verdrängen. “Gebt euren Angehörigen eine Sache mit, damit sie irgendwo anfangen können”, rät Katja.  Wie man eine Trauerfeier gestaltet, ist übrigens viel freier, als man denkt. Auf Pinterest findet man unter dem Stichwort “Beerdigung”, bis auf ein paar schwer gebundene Kränze und kitschigen Sprüche, keine tolle Inspiration. Man braucht keine Blumen, Pfarrer oder Rede, wenn man das nicht möchte. “Die meisten Leute haben eine Filmbestattung im Kopf. Selbst die sind so althergebracht. Wir wollen das Bild auflockern”, sagt Katja. Bei Lebensnah zahlt man 1.700 Euro für das Starterpaket, inklusive Feuerbestattung, inklusive Beratung, aller Um- und Abmeldungen, Sarg, Urne, Totenfürsorge, Aufenthalt im Klimaraum, die anschließende Überführung zum Krematorium und Zweite Leichenschau durch den Amtsarzt. Alle Kosten für eine Feuer- oder Erdbestattung vom ersten Anruf bis zum Friedhof werden transparent auf der Website unter Preise aufgelistet.

So ist das Team von Lebensnah einer der Vorreiter für eine Branche, die sich im Wandel befindet. “Die Generation der Angehörigen ist auf der Suche nach mehr Natürlichkeit”, weiß Katja. Urnen bestehen aus nachhaltigem Papier oder ökologische Holz und werden von Floristen wie Frieda Schwarz über und über mit Blumen geschmückt. Von Neuseeland bis London treffen sich die Leute, um in “Coffin Clubs” ihre eigenen Särge zu bauen und zu bemalen. Auch in den Niederlanden kann man DIY-Särge bestellen. Individuelle Grabplatten, Motto-Steingärten oder freie Baumstellen auf alten Friedhöfen sieht man immer häufiger.

Es gibt inzwischen auch nicht nur Bestattungsspielzeug aus Lego und eine App namens Mymoria, mit der man sowohl eine Bestattung als auch Bestattungsvorsorge mit ein paar Klicks organisieren kann, sondern die Möglichkeit zu einer Friedhofsführung in der Dämmerung, bei der man alles fragen darf, was man schon immer über den Tod wissen wollen. Ein Beerdigungs-Clown kann durch Pantomime den Einstieg zur Auseinandersetzung mit dem Tod einfacher machen. Ein Schauspieler als Trauerredner schafft es, eine berührende Geschichte über den Verstorbenen zu erzählen – und nicht nur nüchtern die wichtigsten Stationen aus dem Lebenslauf zusammenzufassen.

“Unser Ziel ist es, dass die Leute sagen: ‘Das war eine schöne Feier.’ Warum soll eine Beerdigung nicht schön sein? Wir können die Trauer nicht wegnehmen, aber dafür sorgen, dass es ein schöner Abschied wird”, so Katja. Sie sieht aus dem Fenster. Gleich ist die Kita vorbei und sie wird ihr Kind abholen. Das Leben geht weiter.

Portrait Katja Seydel – Leonie Ritz

  1. Kommentare zu diesem Artikel
  2. Angela 31. Oktober 2019 um 10:50 Uhr

    Vielen Dank für dieses großartige Portrait; so wunderbar geschrieben, so eine beeindruckende Frau.

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  3. Petra von FrauGenial 29. Oktober 2019 um 12:34 Uhr

    Wow, ich bin sprachlos. So wahr und so richtig. Eine Trauerfeier ist schon wirklich mit negativem Beigeschmack behaftet, umso schöner wenn man zum Abschluss den Abschied schön gestaltet und mit Leben einhaucht. Es lindert den Schmerz zwar nicht, aber gibt Hoffnung auf das es weitergehen muss.

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  4. Lisa 29. Oktober 2019 um 11:25 Uhr

    `wir feiern Peter´, so lautete der Text auf der Todesanzeige meines Vaters vor einigen Jahren.
    Wir luden zur Trauerfeier in seine Wohnung. Es war Sommer & der Sarg stand auf der Terrasse.
    Später wurde dieser von einem roten Bulli abgeholt.
    Bei der Umsetzung dieses sehr persönlichen Nachmittages hat uns das Trostwerk Hamburg unfassbar toll unterstützt.

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  5. Eva-Christine Bode 29. Oktober 2019 um 10:26 Uhr

    Danke! Schöner Text! So ein wichtiges Thema, das immer noch so unterbelichtet ist, in unserer überbelichteten Realität!

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  6. Lynna 29. Oktober 2019 um 09:50 Uhr

    Was für ein wunderbares Portrait! Es ist so wahr – man weiß nicht wie wichtig dieser Beruf ist, bis man plötzlich mit ihm konfrontiert ist. Bei uns ist so viel falsch gelaufen und das soll in so einer Situation einfach nicht sein. Wie schön, dass in dieser Branche ein Umbruch stattfindet! Danke!

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  7. Katharina 29. Oktober 2019 um 09:22 Uhr

    Alle diese Dinge, wie sie bei Lebensnah gelebt werden, hätte ich mir so sehr gewünscht, als wir letztes Jahr meinen Opa beerdigt haben. Ich saß mit meiner Familie beim Bestatter und wir wünschten uns all diese Dinge: individueller Sarg oder Urne, ein vertrauensvolles Gespräch, in dem vielleicht auch gelacht werden darf, obwohl es absurd war, Transparenz in der Preisgestaltung… es ist alles anders gewesen. Ja, es war alles absurd – nur Kopfschütteln, dass fast keiner unserer “verrückten” Wünsche für die Beerdigung umzusetzen war. Niemand von uns war auf diesen Termin vorbereitet und alles ging so schnell und wir fühlten uns nicht verstanden. Es war am Ende eine schöne Feier, jedoch nicht, weil der Bestatter so gut war, sondern weil in unserer Familie so viele Organisationstalente haben. Ein so wichtiger Beruf und eine so nötige Revolution. Vielen Dank für den Beitrag!

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  8. Lilli 29. Oktober 2019 um 08:42 Uhr

    Danke für dieses faszinierende Porträt Ich war letzte Woche auf einer Beerdigung, dazu muss man sagen, ich komme aus einem kleinen katholischen Dorf und kannte bislang nur Beerdigungen, die sehr steif und trostlos waren. Letzte Woche haben wir einem guten Freund Adieu gesagt und die Trauerrednerin, die diesen Abschied gestaltet hat, ist seitdem in meinem Kopf und meinem Herzen. So ein liebevoller, bewegter Nachmittag, wir haben gelacht und geweint. Es war so würdig. Mein Mann und ich haben seitdem so viel darüber gesprochen und ich viel über Trauerbegleitung gelesen. Und nun das Portrait hier, das ist so ein wichtiger Beruf, wie toll von Euch den hier vorzustellen, bin ganz beseelt, lg und danke, Lilli

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  9. Britta 29. Oktober 2019 um 08:17 Uhr

    Wir hatten das Glück auf genau so einen Bestatter zu treffen als mein Vater verstorben ist! Es ist einfach nur schön wenn die Beerdigung die Person wirklich wiederspiegelt die dort zu Grabe getragen wird! Es ist und bleibt traurig, aber meine Erinnerung an seine Beerdigung ist trotzdem schön! Seine Lieblingssongs klingen noch immer nach! Ich wünsche allen eine solch positive Erfahrung und freue mich sehr das anscheinend immer mehr Bestatter ihre Aufgabe so begreifen wie Katja!

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