Es heißt, dass die mittleren Jahre von Müdigkeit begleitet sind, doch ein Teil meines 43-jährigen Körpers ist extrem wach: meine Haare. Die weißen zumindest. Jeden Morgen, wenn ich verschlafen in den Badezimmerspiegel gucke und mir wünsche, mich noch mal hinlegen zu können, stehen sie bereits so stramm von meinem Scheitel ab wie Offiziere beim Appell. Unmöglich, sie zu ignorieren. Ich werde so kurz nach dem Aufstehen jedoch lieber in Ruhe gelassen – von Menschen, von Anliegen, von meinem fortschreitenden Alterungsprozess.
Daher habe ich sie, als mit Ende 30 die ersten weißen Haare auftauchten, immer wieder ausgerupft. Inzwischen sind es zu viele, um sie ständig zu entfernen. Neben dem Zeitfaktor, denn ich schlafe eh schon nicht genug, kommt es mir inzwischen aber vielmehr darauf an, warum ich sie überhaupt beseitigen sollte. Dabei mag es sein, dass sie niemandem außer mir auffallen. Ich bin blond – allerdings längst nicht mehr natürlich, sondern so aufwendig gefärbt, dass es lediglich natürlich wirkt – und trage die Haare meist mit strengem Mittelscheitel zum Dutt. Die weißen Borsten verschwinden, gegen ihr penetrantes Aufbäumen mit Haarspray gebändigt, zwischen den blonden Strähnen. Allzu lange wird es aber nicht mehr dauern, bis ich mich entscheiden muss:
„Weiter blond färben oder der Natur ihren Lauf lassen?“ -
Mit dieser Frage meldete sich vor einigen Monaten auch unsere Leserin Anna Vetter bei uns. „Ich bin 40 und pilgere jeden Monat mit einem grau-weißen Heiligenschein zum Friseur, sitze dort mindestens zwei Stunden und zahle viel Geld“, schrieb sie, die mit 18 ihr erstes weißes Haar hatte. „Ich gehe also mit zwei wichtigen Ressourcen in meinem Leben, die grundsätzlich ein knappes Gut sind, als voll berufstätige Mutter ist es aktuell vor allem die Zeit, ziemlich unbedacht um. Zudem habe ich gemerkt, dass ich mich auf diese Friseurtermine immer weniger freue, sie weit weg von Me Time sind, sondern ähnlich einem Steuerberatungstermin etwas ‚Notwendiges‘ und ‚Vernünftiges‘, das ich hinter mich bringen will, damit ich wieder ‚funktioniere‘. Als sich nach dem letzten Friseurtermin schon nach zwei Wochen ein weißer Ansatz zeigte, habe ich mich gefragt: Warum machen wir Frauen das?“
Gerade in einer Zeit, so schrieb sie weiter, in der sie es als schön empfindet, älter zu werden, sie immer mehr zu sich selbst findet und es ihr nicht mehr so sehr darauf ankommt, wie andere sie wahrnehmen. Doch an den Haaren spalten sich die Gefühle.
In Umfragen liegt die Zahl der Frauen, die sich in Deutschland die Haare färben, bei rund 70 Prozent. Diese Statistiken sind selten nach Alter unterteilt, sondern nach Geschlecht, und man darf davon ausgehen, dass sich die Mehrzahl das Haar nicht Grau färben, sondern vielmehr das Grau abdecken lässt. Und obwohl es selbstverständlich auch Männer gibt, die zu Tönung und Ansatzspray greifen, ist ihre Zahl vergleichsweise gering. Das ist leicht zu erklären: Der ergraute Mann wirkt distinguiert; die Frau dagegen bloß alt.
Graue Haare sind die Demarkationslinie, an der sich also nicht nur die Geschlechter, sondern auch die Lebensphasen trennen – eine Wahrnehmung, die sich in Erzählungen vieler Freundinnen spiegelt, wie der meiner Bekannten J., die mit Ende 30 ihr erstes Kind bekam und einmal sagte: „Schwanger und ergraut – das passt doch nicht zusammen“, wie auch in den Erhaltungsmaßnahmen, die sie in ihre Frisuren stecken. Mir geht es nicht anders. Ich habe schon viele Haarfarben getragen, von Weißblond über Hennarot bis Schwarz, doch:
„Bei Grau empfinde ich es zum ersten Mal so, dass ich damit keine bewusste ästhetische Entscheidung treffe, sondern vor vollendete Tatsachen gestellt werde.“ -
Historie, Gesellschaft, Gewöhnung: Haare gelten als Merkmal von Weiblichkeit, Attraktivität und Jugendlichkeit. Nicht umsonst schrieb Nora Ephron in ihrer Essaysammlung „Der Hals lügt nie“ in dem Kapitel „Über Instandhaltung“: „Es gibt einen Grund, warum vierzig, fünfzig und sechzig nicht mehr so aussehen wie früher. Das liegt nicht am Feminismus oder am gesünderen Leben, sondern daran, dass die meisten Frauen ihre Haare färben.“ Im gleichen Kapitel schrieb sie mit der ihr so eigenen flapsigen Schläue jedoch auch: „Manchmal denke ich, dass der geheime Vorteil des Todes ist, sich keine Gedanken mehr um seine Haare machen zu müssen.“
Das Buch ist inzwischen 15 Jahre alt. Hat sich in der Zwischenzeit etwas verändert? Es wirkt so. Zum ersten Mal fiel es mir vor einigen Jahren auf, als ich die Streetstyle-Bilder von den Modewochen scannte und eine Person dabei sofort herausstach: Sarah Harris von der britischen Vogue. Harris, so sollte ich später lesen, hatte mit 16 ihre ersten grauen Strähnen. Alle vier Wochen zum Friseur zu gehen, kam ihr als zu viel Arbeit vor, also ließ sie es sein. Sie war (und ist) mit ihrem Schweif silberner Haare eine Erscheinung.
Als mit den ersten Lockdowns die Friseure schlossen, wurde aus dem Einzelfall eine graue Welle. Unter Prominenten war da die Schauspielerin Andie MacDowell mit ihren Salz-und-Pfeffer-Locken. Jenna Lyons, die Ex-Chefin von J. Crew, deren dunkelbraune Haare plötzlich von Weiß durchwirkt waren. Die Influencerin Grece Ghanem mit ihrem blitzenden Bob. Modedesignerin Isabel Marant mit einem grauen Top-Knot.
Auf Instagram trendeten Hashtags wie #silverhair und auf Accounts wie
@grombre (Grombré = Grey + Ombré) zeigten Frauen ihre herauswachsenden Ansätze. Im Guardian berichteten ein gutes Dutzend Frauen von ihrer Entscheidung, Grau zu werden. Unlust, sich zu verstecken; Müdigkeit vom Aufwand; Unwillen, den Beauty-Standards anderer zu genügen – waren einige der Gründe, die sie dafür nannten. Der Artikel war mit Vorher-nachher-Fotos bebildert. Auffällig daran vor allem, dass keine von ihnen nachher optisch „gealtert“ wirkte.
„Grau macht alt, Grau lässt fahl wirken – das sind die üblichen Klischees“, sagt Alin Demircioglu vom
Salon Amba Hair in München, die als Farbspezialist*innen bekannt sind. „Wir stellen aber fest, dass sich die Haltung in den letzten Jahren verändert hat, eine Mischung aus dem Einfluss von Social Media und der Tatsache, dass man lange nicht in den Salon konnte.“ Am Tag vor unserem Telefonat hatte sie gerade erst eine Kundin darin bestärkt, den Ansatz nicht weiter zu färben, sondern das Grau in einem sanften Übergang wachsen zu lassen. Eine beliebte Technik dafür ist Grey Blending, bei dem das Haar beispielsweise mit einer Mischung aus hellen Strähnen, die das Grau hervorheben, und dunklen Strähnen für ein mehrdimensionales Ergebnis gefärbt wird. Auch silberne Blocksträhnen können gesetzt werden beziehungsweise das gebleachte Haar mit Grautönungen abmattiert werden. „Die Methode ist immer individuell zu bestimmen. Es kommt auf den Ausgangspunkt an, also beispielsweise, wie viel Grau zu sehen ist, aber auch, wie viel künstliche Farbe bereits im Haar ist. Das natürlichste Ergebnis für den Übergang lässt sich aber in den meisten Fällen mit Strähnen erzielen“, sagt Demircioglu, und fügt hinzu:
„„Jedes Grau ist anders. Und alle können so schön sein wie jede andere Haarfarbe.““ -
Ein weiterer Vorteil daran, das Grau langsam kommen zu lassen: Friseurbesuche sind nicht mehr monatlich nötig, es reicht stattdessen, die Strähnen vierteljährlich nachzusetzen. Radikaler und gleichsam aufwendiger ist die Methode, für die sich Sali Hughes, die Beauty-Kolumnistin des Guardian, in der Pandemie entschied: von Dunkelbraun auf Eisgrau – in einer Sitzung. Da ein bestimmter Wirkstoff, der in Grau abdeckenden Färbemitteln enthalten ist, bei Hughes eine allergische Reaktion auslöst, hatte sie schon lange darüber nachgedacht, Henna und Ansatzsprays endlich sein zu lassen. Allein die Befürchtung, wie sich ihr neuer Look auf die Außenwahrnehmung auswirken würde, hielt sie ab.
„Ein wichtiger Teil meines Jobs besteht darin, Marken-Events zu moderieren. Nachdem ich online verkündet hatte, dass ich über Grau nachdenken würde, sagten mir einige wohlmeinende Kollegen in der Beautyindustrie, dass ich damit zur ‚älteren Generation‘ zählen und es riskieren würde, Jobs zu verlieren. Und ich würde gerne sagen, dass es mir nicht auch in den Kopf gekommen war, dass sich die professionelle Meinung von Menschen durch meine Haarfarbe verändern würde, aber das tat es und die Furcht war nicht irrational. Denn während sich die Dinge langsam ändern, gibt es keinen Zweifel daran, dass die Beautyindustrie und Konsumenten die Jugend vergöttern“, schrieb sie in einem Gastbeitrag in Vogue. „Aber ich habe noch nie über mein Alter gelogen, und wenn ich eines nicht ertragen kann, ist es, gesagt zu bekommen, ob direkt oder indirekt, wie ich aussehen soll. […] Ich beschloss, dass die Engstirnigen schlechter dastehen würden als ich und blieb hoffnungsvoll.“
Seit ihrer Ergrauung – Hughes ließ die Farbe mit der
Elumen-Serie von Goldwell in der Academy in London machen; einen
Goldwell-Salonfinder gibt es auch für die DACH-Region – ist Hughes nicht nur weiter beschäftigt, sondern hat eine eigene Hautpflegeserie auf den Markt gebracht: nicht etwa spezifisch für „reife Haut“, sondern für verschiedene Bedürfnisse und basierend auf ihrer Expertise. Lebenserfahrung hat sich als guter Look für sie erwiesen. An ihrem Aussehen hat sie mit den grauen Haaren im Übrigen nichts verändert. Sie trage weiterhin am liebsten Schwarz und schminke sich gleich, mit einer Betonung auf kräftige Lippenstiftfarben, hat sie gesagt. Auch Isabel Marant ist unverändert das „Parisian Cool Girl“ – nur heute eben mit grauen Haaren.
„Jedoch eine Typveränderung, ob in radikal wie bei Sali Hughes oder graduell wie bei Isabel Marant, ist auch Gewöhnung.“ -
„Man hat mit jeder Haarfarbe ein anderes Bewusstsein dafür, was dazu passt, und Grau ist eben eine davon“, sagt Manjana Dietrich, Head of Marketing International Professional bei Schwarzkopf, ehemalige Friseurin und Colour-Expertin. „Indem alles heller wird, hat das Gesicht vielleicht weniger Kontur, wirkt softer, und man möchte mit Farbe entgegensteuern. Oder aber: Es unterstreichen. Blässe kann man schließlich auch zelebrieren.“ Wer sich dem Grau erst einmal annähern möchte, dem empfiehlt Dietrich als eine Möglichkeit, nur den Scheitel weiter zu färben und das Grau darunter wachsen zu lassen oder aber die grauen Strähnen um das Gesicht herum kommen zu lassen, während der Rest dunkler bleibt. Von Schwarzkopf gibt es beispielsweise die Serie
Chroma ID, die auch Alin Demircioglu und ihre Kolleg*innen bei Amba Hair benutzen, ein pigmentiertes Treatment, um weißes und graues Haar zu veredeln. Da graue Haare, gefärbt und ungefärbt, besondere Pflege brauchen, empfiehlt Dietrich beispielsweise die Q10-Shampoos aus der
Bonacure-Serie von Schwarzkopf. Demircioglu wiederum verwendet gerne die Pflege von
Authentic Beauty Concept. Sali Hughes favorisiert die Silber-Shampoos von
Maria Nila und
L’Oréal Professionnel.
Als ich Anna Vetter, die Leserin, die uns geschrieben hatte, einige Monate nach ihrer Mail auf Zoom treffe, sehe ich einen grau-weiß gesprenkelten Ansatz. „Ich verwende kein Ansatzspray mehr. Da bin ich auf meinem persönlichen Weg, Perfektionismus abzulegen und zu einem neuen Selbstbild zu finden, ganz schön fortgeschritten“, sagt sie lachend. Auf die Frage, wie andere darauf reagieren, sagt sie: „Es fällt mir ehrlich gesagt nicht auf. Es kann sein, dass ich endlich die dicke Haut habe, die ich mir in meinen Zwanzigern schon gewünscht hätte. Ich reflektiere nicht mehr so, was andere in mir sehen könnten. Zum Beispiel trage ich heute gerne Auffälliges. Sogar mehr denn je.“
Eine größere Herausforderung als die Selbstüberwindung, Grau zu werden, sei bei ihr allerdings, einen Salon in Wien zu finden, der sie darin auch unterstützt. Doch, so sagt sie auch: „Ich glaube, dass es ein Schönheitsideal ist, das sich innerhalb einer Generation verschieben kann. Wir sind eben die Ersten.“
In Zukunft wäre Grau dann nur eine Haarfarbe von vielen. Und nicht das Ende.