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So, jetzt ist es raus. Ich habe keine beste Freundin. Es gibt kein gemeinsames Tattoo, keine Kette mit geteiltem Herz, keine Mädeltrips nach Ibiza. Aber macht euch keine Sorgen: Ich bin okay. Eine Mehrheit der Erwachsenen in Deutschland hat höchstens zwei enge Freund*innen, wie eine Umfrage im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur belegte. 21 Prozent haben so wie ich keinen besten Freund oder keine beste Freundin.
Auch wenn ich es selbst lange Zeit gemacht habe: Verkrampft danach Ausschau zu halten ist meiner Meinung nach genauso sinnlos wie die Suche nach Mr. oder Mrs. Right. Es ist schön, wenn man eine*n Seelenverwandte*n findet. Aber man ist auch ohne ein vollständiger Mensch. Denn wie sagt man so schön: Jeder Topf findet seinen Deckel und bis dahin gibt`s Frischhaltefolie.

Ich glaube sogar, dass das Konzept Freundschaft ohne Steigerungsform wie „Beste“ oder „Allerbeste“ nicht nur gesünder, sondern auch feministischer ist. Denn an meiner Tochter sehe ich, wie die Idee, einen passenden Deckel finden zu müssen, schon ein fünfjähriges Mädchen ungeheuer stresst. „Charlotte hat gesagt, dass ich nicht mehr ihre beste Freundin bin“, weinte sie neulich. Sie kommt nicht damit klar, dass sich ihr Beliebtheitswert täglich ändert. Mir versetzt es einen Stich, wenn mein Kind erzählt, dass keine*r mit ihm gespielt hat. Gleichzeitig wundere ich mich über andere Eltern, denen es total wichtig ist zu betonen, wer zum inneren Kreis der Clique gehört und wer nicht.
Mich macht das nicht nur als Mutter wütend, sondern auch als Frau. Müssten wir nach all den klugen Appellen in jüngster Zeit nicht schlauer sein und statt Rivalität die Gemeinschaft kleiner Menschen fördern?
„Für mich fängt Empowerment deshalb in der Kita an.“ -
Zur Geburtstagsparty habe ich dieses Jahr zehn Kinder eingeladen, nicht nur die besten Freund*innen. Nach dem Kuchenessen versammelten sie sich im Kreis, legten alle ihre Hände aufeinander und riefen: „Jetzt vereinen wir unsere Superkräfte!“ Dann tobten sie weiter. Manometer, war ich stolz.
Dabei muss man wissen, dass Kinderfreundschaften erst mal vorrangig eines sind: zweckdienlich. Die beste Freundin oder der beste Freund sind die- oder derjenige, mit der oder dem man am besten spielen kann. Entwicklungspsycholog*innen sprechen deshalb lieber von „Spielgefährt*innen“ als von „Freund*innen“. Eltern sollten von ihren Kindern nicht erwarten, schon früh eine Zweierbeziehung zu pflegen, sondern im Gegenteil: den Zoff der Kinder als einen wichtigen Meilenstein der wachsenden sozialen Kompetenz sehen.

Meine Tochter versteht das natürlich noch nicht. Um sie zu trösten, erzähle ich ihr meine Geschichte, die zwar traurig ist, aber Mut macht: Bis zur vierten Klasse hatte ich eine beste Freundin. Juli hatte dicke braune Haare, einen Hund und konnte Handstandüberschlag. Egal ob Jungs oder Mädchen, alle wollten mit ihr befreundet sein. Ich hatte das Glück, dass ich neben ihr wohnte und jeden Morgen mit ihr zusammen in die Schule kam. Kaum aber betraten wir den Schulhof, begann der Kampf um unsere Freundschaft. Die anderen Kinder mobbten mich, indem sie mich nicht in die gleiche Mannschaft wählten oder im Unterricht kleine Briefe schrieben, in denen stand: „Alexa hat gefurzt!“ (An dieser Stelle lacht meine Tochter immer.) Juli stand zu mir, aber sie wollte auch mit anderen Kindern spielen. Ich war eifersüchtig und froh, wenn wir nachmittags wieder zu Hause waren und es nicht mehr infrage stand, wer ihre allerbeste Freundin ist.
Bevor wir auf das Gymnasium wechselten, zog Juli mit ihren Eltern weg. Für mich brach eine Welt zusammen. Ein Jahr zuvor war mein Vater gestorben. Die beste Freundin war eine wichtige Bezugsperson für mich, die ich nicht auch noch verlieren wollte. Mit ihrem Umzug passierte genau das, wovor ich Angst hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, ohne eine Verbündete in die Schule zu fahren, und wollte unbedingt eine neue beste Freundin haben. Ich fand Anschluss in einer anderen Clique, in der sich wieder alles um ein Mädchen drehte und jede*r exklusiv mit ihr befreundet sein wollte. Lange dachte ich: Was stimmt nicht mit mir, dass sie mich nicht als best friend forever will? Damals wusste ich noch nicht, dass man weder Liebe noch Freundschaft erzwingen kann. Ich wurde vorgeführt, hintergangen und bloßgestellt. Eine Weile machte ich das Theater mit, tat dann aber instinktiv etwas, das ich durch den Tod meines Vaters gelernt hatte: meine Gefühle in Sicherheit zu bringen.
„Ich verabschiedete mich von der Idee der besten Freundin und stellte mich auf den Raucherhof, wo jeder ein Star war, der eine volle Packung Kippen hatte.“ -
Natürlich will ich meine Fünfjährige nicht zum Rauchen animieren, um Himmelswillen. Aber ich kann ihr damit hoffentlich klarmachen, dass man in einer anderen Gruppe, auch wenn es nicht die Hipster sind, vielleicht viel besser klarkommt, als man anfangs vermuten würde. Ähnliche Erfahrungen hat meine Kollegin Sandra Winkler, Journalistin und Autorin humorvoller Ratgeber wie „Das Kinderverstehbuch: Alles über Schnullerwerfer, Gemüseverweigerer und Matratzenhüpfer“ gemacht. „Was für ein Druck“, erinnert sie sich. „Ich habe und hatte auch nie eine beste Freundin und habe diesen Superlativ als sehr anstrengend empfunden. Ich bin eher der Cliquentyp und fand die Jungs meist lustiger und entspannter – auch weil sie sich nicht ständig gefragt haben: ‚Bist du jetzt mein bester Freund?‘“

Das Thema Freundschaft beschäftigte die Menschheit schon ewig. Besonders für die alten Griechen hatte sie einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert. Der Philosoph Aristoteles unterschied drei verschiedene Arten der Freundschaft, die ich clever finde, weil man damit auch bei sich gut sortieren kann:
1. Lustfreund*innen bilden eine Interessengemeinschaft. Sie verbindet der Spaß wie gemeinsames Ausgehen oder Reisen. Moderne Beispiele: Party- oder Sport-Freund*innen.
2. Nutzfreund*innen sind Geschäftsfreund*innen oder Bekannte aus einem Netzwerk, die sich beruflich gegenseitig unterstützen. In der Gründer- oder Medienszene tummeln sich viele Nutzfreund*innen, aber auch in den Vorlesesälen der Unis.
3. Die vollkommene Freundschaft bedeutet, dass man ungeachtet von Lust und Nutzen einfach die Gegenwart des anderen, so wie er oder sie ist, schätzt.
An dem Wert der Freundschaft hat sich bis in unsere Zeit nichts geändert, was der Erfolg von Geschäftsmodellen wie Facebook deutlich macht. Allerdings ist die Situation heutzutage etwas verkorkst:
„Die meisten von uns haben hunderte von digitalen Kontakten, aber keine Zeit für die echten Freund*innen.“ -
Soziolog*innen sprechen von einem „Kontaktinfarkt“.
Ich fasse mir an die eigene Nase, wenn ich die Sprachnachricht einer Freundin tagelang nicht abgehört habe, weil ich zu beschäftigt damit war, die Fragen meiner Follower*innen zu beantworten. „In unserer hektischen Welt bekommt das unsere Energie, was am lautesten schreit. Wir opfern unser Privatleben häufig für die Arbeit“, weiß die Diplom-Psychologin Stefanie Winke, die ihre
Praxis in München hat und auch auf ihrem
Instagram-Account viele gute Tipps gibt.

Auch wenn ich Juli manchmal vermisse oder selber gerne das beliebteste Mädchen der Schule gewesen wäre: Für meine Psyche war ein diverses Freundschaftsnetzwerk, das ich mir in den vergangenen Jahren aufgebaut habe, statt einer fragilen Eins-zu-eins-Beziehung gesünder. Bei all diesen Menschen spielt es keine Rolle, wie lange unser letztes Treffen her ist. Sie verstehen, dass ich dauernd online bin, aber erst zwei Tage später auf eine Nachricht antworte. Anders als in der Liebe ist der Wechsel aus Nähe und Distanz für eine Freundschaft typisch. Sie hält es aus, wenn man sich eine Weile nicht sieht oder hört. Und ich dachte, so läuft das doch richtig gut: Auch wenn uns das Leben durcheinanderwürfelt, bleibt die alte Vertrautheit.
Dann kam die Coronapandemie. Laut einer Umfrage des Markt- und Meinungsforschungsinstituts YouGov hat beinahe jede dritte Freundschaft in den letzten zwei Jahren gelitten. Viele wurden nur noch digital über Zoom gelebt, Lust- oder Nutzfreundschaften gar nicht, weil eben die Basis fehlte. Auch meine sozialen Kontakte reduzierten sich auf die Kernfamilie und die Postfrau. Ich war gereizt und fing an, mit mir selber zu sprechen. „Isolation ist in der Folge nicht ohne Grund eine bewährte Foltermethode“, verdeutlicht Stefanie Winke die Lage, in der wir uns alle befanden. Jetzt, da die meisten Beschränkungen aufgehoben sind, möchten wir vieles nachholen. Am liebsten mit allen zusammen. „Durch die Einschnitte ist so viel in unserem Leben weggefallen, dass der Erwartungsdruck auf die Freund*innen gestiegen ist. Freund*innen sollten uns auffangen und besser stimmen, weil sonst nichts möglich war“, erklärt Stefanie Winke. Aber:
„Viele Freundschaften sind nach Corona nicht mehr die gleichen wie davor.“ -
„Wichtig ist aber, dass wir uns darüber bewusst sind, dass unsere Wünsche nicht mit Ansprüchen gleichzusetzen sind.“
Es gilt also, behutsam wieder aufeinander zuzugehen. Manche Freund*innen haben sich so an die kalte Bildschirmpräsenz, dauernde Absagen und Stornierungen gewöhnt, dass sie echte Begegnungen erst wieder zulassen müssen. Vielen fällt das schwer. Eine Abonnentin schrieb uns von der Einladung zu ihrer wegen der Pandemie dreimal verschobenen Hochzeit, die nun endlich stattfinden soll. Gute Freund*innen, die vorher unbedingt dabei sein wollten, sagen ihr plötzlich aus „finanziellen oder logistischen Gründen“ ab. Die Enttäuschung der Braut in spe ist verständlicherweise groß. Denn trotz vieler digitaler Kontakte – unsere Gefühle finden analog statt. Wir können sie weder blocken noch löschen.
Zu welcher Reaktion würde die Expertin in so einem Fall raten? „Ich bin ein großer Fan davon mitzuteilen, wenn mir etwas schwer im Magen liegt. Wenn ich es dann noch schaffe, nicht in einen trotzigen Modus zu kommen, ist viel geschafft“, sagt Stefanie Winke. Man kann zum Beispiel sagen: „Ich hätte mich wirklich gefreut, dich dabei zu haben.“ Für den Bestand einer echten Freundschaft ist diese Offenheit notwendig. „Wenn wir Enttäuschungen in uns hineinfressen, platzen wir irgendwann laut oder ganz still leise, indem wir jemanden ghosten. Der andere hat nicht die Chance, über uns zu lernen. Enttäuschungen zu zeigen, gibt unseren Mitmenschen wichtige Signale über unsere Grenzen und Bedürfnisse“, so Winke.
Apropos Bedürfnisse:
„In Spanien schleppten die Menschen während des Lockdowns unter Vorwand ihre Müllsäcke durch die Straßen, um ihre Freund*innen zu besuchen.“ -
Wenn die Polizei fragte, was sie da machten, erklärten sie, sie seien auf dem Weg zum Container. Eine schöne Anekdote, die Sebastian Schoepp in seinem Buch „Rettet die Freundschaft – wie wir gemeinsam wieder zu mehr Leichtigkeit und Lebensfreude finden“ erzählt.
Vielleicht spürten diese Menschen intuitiv, dass freundschaftliche Kontakte das Immunsystem stärken und das Risiko für Depressionen senken. Denn auf Dauer kann ein digitales Update keinen gemeinsamen Kaffee ersetzen. Unsere Freundschaften brauchen Aufmerksamkeit und Austausch, und zwar nicht nur über WhatsApp oder Instagram, sondern auch in der Realität. Als ich neulich das Gespräch von zwei Freund*innen belauschte, die sich auf der Straße trafen, zog sich mein Magen zusammen: „Wie geht es dir?“, fragte die eine. Die andere antwortete: „Hast du meine Story nicht gesehen?“
Vor allem Frauen brauchen Intimität und die Möglichkeit, von Angesicht zu Angesicht über sich selbst und ihr Leben zu sprechen. Genau dieser Wunsch macht uns die Pflege von Freundschaften in unserem durchgetakteten Alltag aber so schwer. „Wie schaffe ich es trotz großer Veränderungen im Leben weiter Raum für meine Freund*innen zu schaffen?“, fragte ich Stefanie Winke deshalb zum Schluss. Auch wenn ich keine beste Freundin habe, ganz ohne Freundeskreis möchte ich nicht dastehen. „Auch das priorisieren, was keine Deadline hat. Dazu gehören Freundschaften“, sagt sie.
Selbst alte Bande knüpfen sich nicht von alleine weiter. Wenn dieser Artikel erscheint, dann haben Juli und ich mit Freund*innen und Familie ein Wochenende in Amsterdam verbracht. Die Zugtickets waren sauteuer und die Fahrt dauerte knapp sechs Stunden. Aus finanziellen oder logistischen Gründen hätte ich die Reise früher vielleicht abgesagt. Dann wurde mir aber klar, wie sehr ich mich auf eine tolle Frau und neue gemeinsame Erinnerungen mit ihr freue. „Es hilft zuerst das zu geben, was wir selbst erwarten“, sagt Stefanie Winke. Mir hat das richtig gutgetan.