Wonach ist dir heute?
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Vor ein paar Tagen war ich wandern. Ein viel beschäftigter Freund, ein Manager, der sonst immer nur Zwei-Stunden-Slots für mich hat, hatte einen Tag frei. An einem Wochentag. Seine Firma liegt lahm, aus Sechzig-Stunden-Wochen und dauernden Reisen sind plötzlich Zwanzig-Stunden-Wochen geworden.

Wir stiefelten durch ein Moor am Rand von Berlin und hatten plötzlich etwas, was wir zuletzt vor hundert Jahren zusammen gehabt haben: endlos viel Zeit. Nach zwei Stunden hatte ich begriffen, was er eigentlich beruflich macht. Ein paar Hundert Leute managen – aber was heißt das? Und was gefällt ihm daran eigentlich so gut? Und was heißt das überhaupt, etwas zu sagen zu haben, und wieso mag er das so? Und wieso mag ich es überhaupt nicht, und wieso mögen wir uns eigentlich? … und, und, und. Je länger wir redeten, desto interessanter wurde es.

Nach vier Stunden, die Sonne blinkte durch Moorbirken und etwas in mir entspannte sich, sprachen wir zum ersten Mal überhaupt über unsere Freundschaft und darüber, was wir einander bedeuten. Nach weiteren sechs Stunden kamen wir in die Zone, in die wir zuletzt vor 25 Jahren gelangt waren, als wir beide studierten: Wir sprachen über die Dinge, über die man wirklich nur spricht, wenn absolut alle Gesprächsthemen erschöpft sind. Ich erzählte ihm, wie ich als Kind in den Alpen einmal in einen Schneesturm geraten war und welche merkwürdige Ruhe mich dabei erfasst hatte. Und er erzählte mir von einer Zeit, in der er sich sehr einsam gefühlt hatte. Und von seinen Eltern, die nie aus ihrem Dorf rausgekommen sind. Wie stressig es für ihn ist, zwischen diesen beiden Welten zu pendeln: seiner beruflichen Welt und der Welt seiner Herkunft. Dass er oft das Gefühl hat, sich zu verstellen.

Wir lernten uns ein bisschen neu kennen, mein alter Freund und ich.

Es war vielleicht der erste messbare Effekt, den Corona auf meine Beziehungen hat. Weitere Effekte, die ich in den letzten Tagen beobachtet habe: Ich denke nicht immer nur daran, dass ich meine Freunde, vor allem die, die schon über siebzig sind, jetzt endlich mal anrufen müsste. Ich rufe tatsächlich an, weil ich mir Sorgen mache, dass sie zu unvorsichtig sein könnten, und weil ich wissen will, ob sie auch ein Desinfektionsmittel haben, das wirklich gegen Viren und nicht nur gegen Bakterien hilft. Überhaupt entdecke ich gerade das Telefon wieder. Wann habe ich zuletzt einen Abend lang drei Stunden am Stück telefoniert? Und (auch das gehört zur Wahrheit dazu, wie unser Gesundheitsminister es formulieren würde): Ich merke, auf wen ich eigentlich gar nicht so viel Lust habe.

Ich liebe meine Freunde und ich brauche sie. Aber die Treffen mit all den Halbfreunden und freundlichen Jobkontakten stressen mich offenbar mehr, als mir bisher klar war. Über gar nicht so wenige Absagen in den letzten Tagen war ich einfach erleichtert. Ich bin gespannt, wie ich über Freundschaften denken werde, wenn Corona vorbei ist.

Warum ich überhaupt über Freundschaften schreibe? Ich habe ein Bilderbuch geschrieben, es heißt „Freunde“ und es beschreibt die Verläufe, die Freundschaften im Laufe des Lebens nehmen. Eine Seite, ein Bild, ein Satz. Hinter vielen dieser Seiten steht eine Geschichte, die ich so erlebt habe. Aber ich habe auch viele Menschen zu ihren Freundschaften befragt. Freundschaften, so eine Erkenntnis, verlaufen oft in ähnlichen Bahnen, im Gegensatz zu Liebesbeziehungen, die irgendwie individueller sind.

Die meisten Leute finden ihre Freunde zwischen zwanzig und dreißig. Das ist die Zeit, in der wir auf Leute treffen, die uns ähnlich sind, was in der Schule ja nicht unbedingt der Fall ist. Gleichzeitig haben wir das, was uns später fehlt: endlos viel Zeit. Überhaupt ist Zeit ein wichtiger Faktor beim Entstehen von Freundschaften: Nicht alle unsere Freunde sind Seelenverwandte. Manche Freundschaften entwickeln sich einfach dadurch, dass man Zeit zusammen hat. Tennisspieler wissen das. Wer einen Sommer lang jeden Dienstag und jeden Freitag mit seinem Doppel-Partner übt und danach noch eine Weißweinschorle trinken geht, der wird am Ende des Sommers mit einiger Wahrscheinlichkeit mit dieser Person befreundet sein.

Kindergarteneltern wissen das auch: Anfänglich sind nur die Kinder befreundet, aber x Kindergeburtstage und Playdates später ist man plötzlich so etwas wie befreundet. Selbst wenn man sich zuerst eher fremd war. Sozialpsychologen nennen das den Mere-Exposure-Effekt: Das Konzept besagt, dass wir Menschen, die wir häufig sehen, per se sympathischer finden. Dieses Thema taucht auch in meinem Buch auf. „Vielleicht waren wir einfach in einer ähnlichen Lage“ ist der Satz, den ich dazu aufgeschrieben habe, und die Illustrationen zeigen Menschen beim Yoga und ein paar Soldaten im Schlamm. Apropos Schlamm: Wer einschneidende Lebensereignisse miteinander teilt, ist danach auf eine tiefe Weise verbunden.

Vielleicht ist das auch einer der Gründe, warum Freundschaften, die in den Zwanzigern entstehen, oft etwas so Unverbrüchliches haben. Man hat sich gemeinsam in die Welt aufgemacht und weiß noch nicht, wie man mit dem Leben überhaupt zurechtkommen soll. Im besten Fall gibt es in diesem unübersichtlichen Gebiet ein paar Menschen, die zwar auch keine Landkarte, aber trotzdem hier und da einen freundlichen Tipp haben, ob man jetzt eher links oder rechts gehen soll. So jedenfalls habe ich Freundschaft in meinen Zwanzigern erlebt. Und auch wenn wir nicht alle Freunde aus dieser Zeit geblieben sind: Meine besten Freundschaften sind da entstanden.

Ich habe in den letzten Tagen noch etwas entdeckt, was artverwandt mit Freundschaft ist: das Gefühl von Gemeinschaft. Es ist ein schwieriges Thema, weil es schnell pathetisch und sogar patriotisch klingt, deshalb reden wir oft nicht darüber. Aber ja: Ich finde es ein schönes Gefühl, wenn Nachbarn, die sich sonst nur freundlich zunicken, die alten Leute im Haus fragen, ob sie etwas für sie tun können. Ich fand es auch ein unglaublich starkes Gefühl, als wir bei Sonnenuntergang von der Wanderung in die Stadt zurückfuhren und die Menschen auf den Straßen sahen. Die Stadt war viel leerer als sonst, in den großen Wohnhäusern brannten alle Lichter und es erfasste mich ein Gefühl, mit allen und all dem verbunden zu sein. Ich wusste in dem Moment einfach, was im Kopf dieser Menschen vor sich ging.

Eine gemeinsame Sorge zu haben, in einer Welt, in der jeder seine eigenen Sorgen hat, das ist bedrückend, verbindet aber auch. Ich fürchte, dass dieses Gefühl in einer Post-Corona-Welt wieder verschwinden wird. Aber ich glaube, es ist gut, sich klarzumachen, dass wir Menschen das gern mögen. Gemeinschaft. Sozusagen Freundschaft mit Menschen, die man gar nicht kennt.

 

Die Autorin Heike Faller ist Redakteurin beim Magazin der Wochenzeitung DIE ZEIT und schreibt ab und zu auch Bücher. Immer solche, die man nie mehr hergeben, aber gern noch mal kaufen und verschenken mag. Ihr neuestes Buch heißt „Freunde – was uns verbindet“ und ist bei Kein & Aber erschienen. Genau wie ihr Buch „Hundert: Was du im Leben lernen wirst“, das bereits ein internationaler Bestseller ist. Die Bilder für beide Bücher hat der Illustrator Valerio Vidali beigesteuert.

  1. Kommentare zu diesem Artikel
  2. Martha 26. März 2020 um 18:58 Uhr

    Ein berührender Text der das Gefühl erweckt, dass wir ALLE miteinander verbunden sind. Es bleibt die Hoffnung, dass wir dieses Gefühl auch über Corona hinaus in uns bewahren und in der Zukunft in unserem Alltag wirksam werden lassen!
    Danke für den inspirierenden Text!

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  3. Nele 19. März 2020 um 17:43 Uhr

    Was für ein toller Text…ich finde das soo bewundernswert, wenn man so reflektiert über ein Thema schreiben kann und dann auch noch über ein so wichtiges wie Freundschaften. Mir ging es in letzter Zeit oft so, dass ich die Gespräche mit Freunden so oberflächlich fand…man unterhält sich selten über wichtige Themen oder diskutiert gar mal ein Thema kontrovers…zumindest geht es mir so und das fehlt mir…vielleicht muss ich einfach mal anfangen und sehen was passsiert. Jetzt scheint der Zeitpunkt dafür! Danke auf jeden Fall für den tollen Text.

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  4. Petra von FrauGenial 19. März 2020 um 12:51 Uhr

    Wow, Gänsehaut. Die Wörter, insbesondere die Gedanken treffen genau da, wo es nur Bildaufnahmen schaffen! Auch ich habe mich letztens dabei erwischt, wie ich durch meine Whats App Kontakte gescrollt habe, von denen ich schon so lange nichts mehr gehört habe und es sind direkt Stunden voller Telefongespräche geworden…und ja, man lernt seine Nachbarn in diesen Zeiten, noch viel besser kennen!

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  5. Julia 19. März 2020 um 07:56 Uhr

    So toll geschrieben. Ich fand schon das erste Buch von ihr toll; das zweite werde ich sicherlich ein paar mal an die Freunde verschenken, deren Abwesenheit im Alltag die nächsten Wochen besonders fehlt und deren Freundschaft man sich dennoch und deswegen besonders sicher sein kann. Danke für diesen Text! Ein schöner Gedankenanstoss.

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