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Es ist 7:31 Uhr und ich sitze an meinen Laptop. Drehen wir die Zeit mal 15 Jahre zurück. Gut, seien wir ehrlich, drehen wir die Zeit mal 20 Jahre zurück. Da hätte ich um 7.31 Uhr auch gesessen. In einem Schulbus nämlich. Auf mehr oder minder gepolsterten Sitzen mit eigensinnig anmutenden Mustern. Und dort hätte ich gesessen und wäre fleißig schulischen Pflichten nachgegangen. Ich hätte meine Hausaufgaben abgeschrieben. Und wenn ich zu dieser Zeit noch nicht in Stimmung gewesen wäre, dann hätte ich eben die kleinen Pausen genutzt. Oder die große. Oder andere Unterrichtsstunden. Ich sage euch, das Abschreiben nicht erledigter Hausaufgaben erfordert ein gewisses Organisationstalent. Das ich nicht immer hatte und deshalb trotz aller Abschreiberei mit recht vielen Klassenbucheinträgen und Strichen belohnt wurde. Ums kurz zu machen:
„Hausaufgaben trugen zu meinem Schulerfolg eher nicht bei. Nein, wirklich nicht.“ -
Die Frage nach dem Sinn und Unsinn von Hausaufgaben beschäftigt Bildungsforscher*innen und Pädagogen*innen seit Jahren. Und in der Regel kommt dieses schulische Urgestein dabei nicht sonderlich gut weg.
Warum überhaupt Hausaufgaben?
Im niedersächsischen Schulsystem ist das Geben von Hausaufgaben durch einen Erlass geregelt und somit für Lehrkräfte und Schulen erstmal grundlegend bindend. Dort heißt es, Hausaufgaben sollen den täglichen Unterricht ergänzen und den Lernprozess unterstützen. Hausaufgaben sollen der Übung, Anwendung und Festigung von Kenntnissen, Kompetenzen und Fähigkeiten dienen. Sie sollen außerdem die eigentätige Auseinandersetzung mit Unterrichtsinhalten oder auch frei gewählten Themen und somit die Selbstständigkeit fördern.
Wichtige Worte. Große Ziele. Und ungezählte Studien, die ziemlich deutlich aufzeigen, dass durch häusliche Schularbeiten diese Ziele kaum bis überhaupt nicht erreicht werden. Aber wieso nicht?
Lernen braucht doch Übung oder?
Und wie. Jeder, der ein Kleinkind beim Laufenlernen und Hinfallen beobachtet, weiß das. Aber Lernen braucht auch so viel mehr. Effektives Lernen braucht Motivation. Lernen braucht Kraft. Lernen braucht emotionales Wohlbefinden. Lernen braucht Selbstbewusstsein. Lernen braucht Selbstkenntnis. Lernen braucht manchmal Unterstützung. Lernen braucht Handwerkszeug. Lernen braucht Entwicklungsstadien. Lernen braucht individuelle äußere Faktoren.
Lange Liste. Und hätten wir nun ein Bild vor Augen von dem Kind, das fröhlich pfeifend nach Hause kommt. Oder in den Hort. Oder. Das sich beschwingt und voller Appetit seinem Mittagessen widmet, redselig den Schultag Revue passieren lässt, ein kurzes Verdauungspäuschen macht und sich dann voll Wonne und Motivation seinen Hausaufgaben widmet, nachdem es in seinem selbstständig verlässlich geführten Hausaufgabenheft geblättert hat. Das sich freut auf all die Rechentürme, Rechtschreibübungen, Lesetexte und Auswendiglernerei, weil es ein echtes Interesse an diesen Inhalten hat und sich positiv herausgefordert fühlt. Das sicher weiß, dass es das weitgehend alleine bewältigen kann. In einer grundschulangemessenen Zeit von einer halben Stunde. Ein Kind, das weiß, wohin es sich wenden kann, wenn es Hilfe braucht. Ja, hätten wir dieses Bild vor Augen. Dann hätten die Zielsetzungen von Hausaufgaben vielleicht eine Chance. Vielleicht.
Aber wir alle wissen, aus eigener Schulerfahrung oder als Eltern von Schulkindern, wie dieses Bild wirklich aussieht: Kinder, die geschafft sind. Erschöpft von all dem Input, all den emotionalen, sozialen und fachlichen Herausforderungen des Schultags. Kinder, die vielleicht einen blöden Streit mit der besten Freundin hatten. Kinder, die sich an Matheaufgaben die Zähne ausbeißen. Kinder, deren Eigenorganisation einfach noch ihre Zeit braucht und die ihr Hausaufgabenheft gerade nicht finden können. Oder das Mathebuch. Kinder, die stundenlang intensiv gelernt haben.
„Kinder, die Ruhe wollen. Und ihren wohlverdienten Feierabend.“ -
Kinder, die keine Lust haben, sich gleich wieder an den Tisch zu setzen. Die nicht noch einen Rechenturm lösen wollen. Weil das können sie schon im Schlaf. Kinder, die den Lesetext nicht lesen wollen. Weil sie so schwierige Wörter noch nicht können. Und der Inhalt so langweilig ist. Kinder, die mit ihren Eltern kämpfen. Haussegen, die schief hängen. Tränen, die fließen. Kinder, die nicht wissen, an wen sie sich wenden sollen, wenn sie allein nicht weiterkommen. Kinder, die nicht auf Unterstützung zählen können und so mal wieder im Nachteil sind.
Und es braucht eigentlich keine Bildungsforscher*innen, um zu erkennen, dass unter diesen alltäglichen Umständen effektives Lernen schlichtweg nicht stattfinden kann. Und Hausaufgaben nicht nur ineffektiv sind, sondern Lernfrust weiter verhärten. Und dass sie nachweislich vor allem die Kinder besonders treffen, die sich ohnehin schon schwertun. Und die Schere wird wieder ein Stück größer.
Zu guter Letzt werden Hausaufgaben nicht selten zum Druckmittel und bekommen damit eine weitere sehr ungünstige Komponente. Eigentlich spannende und tolle Unterrichtsinhalte werden zur Strafe und schüren bei den Kindern negative Gefühle gegenüber diesen Lernschätzen. „Ja, aber…“
Ja abers – mein täglich Brot.
„Ja, aber Kinder müssen das eigenständige Lernen doch auch mal trainieren.“
Müssen Kinder nicht. Denn – wie cool ist das denn – das hat die Natur in uns angelegt. Dass wir Lernen wollen. Dass wir Dinge schaffen, können und verstehen wollen. Und, wie erwähnt, schaut kleinen Kindern zu. Die stellen das eindrucksvoll unter Beweis. Der Drang nach eigenverantwortlichem Lernen ist da. Aber er ist eben auch an eigene Motivation, eigene Bedürfnisse, eigene Biographie, den eigenen Entwicklungsstand und eigene Interessen geknüpft. Und an dem Punkt müssten wir ansetzen. Denn in der Regel erfolgen ziemlich einheitliche Hausaufgaben. Mit wenig Auswahl und Anpassung. Ich verstehe das. Einfach schwer zu leisten in all der Belastung. Geht mir selbst nicht anders. Was wäre es da für eine Erleichterung, uns gänzlich von dieser Pflicht zu befreien und dem eigenständigen Lernen im konkreten Schulalltag mehr Platz einzuräumen.
„Ja, aber Kinder müssen doch lernen, dass es auch Pflichten gibt, durch die man sich auch mal beißen muss. Auch wenn man nicht will. So ist das im Leben.“
Wird am meisten genannt. Und ich kann aus der täglichen Praxis nur absolut versichern, dass Kinder das in tausenden Schulsituationen lernen. Dafür brauchen wir den Kram mit den Hausaufgaben nicht auch noch. Angefangen von zeitlichen Vorgaben, wie einem klar vorgeschriebenen morgendlichen Schulbeginn, über feste Stundenpläne, zugeteilte Arbeitspartner*innen, Themenvorgaben, bis hin zu Prüfungen und zum Beispiel der peinlichen Bewertung sportlicher Unfähigkeiten am Stufenbarren.
„Kinder müssen sich tagtäglich durch ziemlich viel beißen. Ob sie wollen oder nicht.“ -
Und mal kurz #denkimpuls. Stellt euch vor euer Arbeitgeber/eure Arbeitgeberin würde euch völlig planmäßig nach einem anstrengenden Arbeitstag und dem „Ableisten“ eurer Arbeitszeit eine Stunde lästige und ineffektive Zusatzarbeit mit in den Feierabend nach Hause geben. Anstatt das sinnvoll in die Arbeitsabläufe zu integrieren. Jeden Tag. Passiert durchaus so. Weiß ich. Und? Wie zufrieden macht das so?
„Ja, aber auch das Elternhaus ist für die Begleitung des Bildungsweges zuständig und muss die schulische Arbeit unterstützen.“
Natürlich. Und Zusammenarbeit ja. Unbedingt. Gerne. Eines meiner liebsten Felder. Austausch ja. Gegenseite Unterstützung ja. Gemeinsam für das Kind. Mein Motto. Aber Lernfrust nach Hause verschieben? Beziehungsstress zwischen Eltern und Kindern verursachen? Die Aufgabe Eltern zu sein, ist fordernd genug. Müssen wir die Nachmittag zusätzlich so belasten? Zu welchem Preis?
„Ja, aber in der Grundschule mag das ja noch gehen, aber dann kommt an den weiterführenden Schulen der Hammer.“
Leider. Einer der Gründe, warum ich mitspiele. Weil ich muss. Und weil ich weiß, was von meinen Schulkindern an den nächsten Schulen verlangt wird. Und weil ich sie da nicht blind hineinwerfen möchte. Ein blöder Grund. Aber alternativlos. Es sei denn, es wird mal systemisch was getan und entschieden. Denn die grundlegende Effektivlosikgeit von Hausaufgaben wurde übrigens schulformunabhängig nachgewiesen.
„Ja, aber wie sollen wir Lehrkräfte den Stoff sonst schaffen?“
Treffer. Unsere Lehrpläne quellen über. Zeitnot, wohin man schaut. Um dieser Fülle gerecht zu werden, weichen viele Lehrkräfte aufs Elternhaus aus. Ist mir auch schon so gegangen. Unfair as hell. Und wieder ein gutes Beispiel, wie Vorgaben auf den Rücken von Lehrkräften, Eltern und Kindern lasten.
„Also Stoff entrümpeln. Sowieso und prinzipiell. Aber auch für dieses Problem.“ -
Und trotz der guten Argumente gegen die Jaabers sind wir noch beim Müssen. Kinder müssen. Hausaufgaben müssen. Also dann wenigstens die Situation so angenehm wie möglich machen. Die optimale Arbeitszeit finden. Die kann sehr unterschiedlich sein. Dem Kind Auswahl geben. „Du könntest die Hausaufgaben jetzt erledigen, dann hättest du das geschafft. Oder du könntest sie vor dem Abendbrot machen. Dann kannst du dich jetzt erstmal ausruhen oder spielen.“ Mit dem Kind gemeinsam eine passende Arbeitsumgebung gestalten. Manche arbeiten gerne am Esstisch, mitten im Trubel. Andere bevorzugen Ruhe in ihrem Zimmer. Manche liegen gern auf dem Wohnzimmerteppich oder auf dem Sofa. Manche stehen gern. Es macht Sinn, sich einmal durchzuprobieren. Es hilft die Situation etwas schöner zu machen. Wenn ich schreibe, mache ich mir gerne einen Kaffee und knabbere etwas dazu. Ein Kakao und ein paar Kekse können für Kinder den Wohlfühlfaktor beim Erledigen der Hausaufgabenpflicht erhöhen.
Ein sehr wichtiger Punkt kann die verlässliche und überschaubare Zeitbegrenzung sein. Im Grundschulalter sollten die Hausaufgaben eine Arbeitszeit von einer halben Stunde nicht überschreiten (individuell ist es oft sinnvoll, das noch weiter zu verkürzen). Lieber kurz und wenigstens halbwegs effektiv, als lange völlig umsonst quälen. Ein Stoppuhr oder passende Sanduhr aufstellen. Dazu ist es sinnvoll mit den Lehrkräften Rücksprache zu halten. Dem Kind vermitteln, es muss nur für diese Zeit arbeiten. Ist die Zeit um, hat es seine Pflicht erfüllt, egal, ob die komplette Menge erledigt werden konnte. Gerne dann eine kurze Nachricht an die Lehrkraft. Sinnvolle Zusammenarbeit. Ich erwähnte es.
Also alles nur doof?
Es wurde nachgewiesen, dass Hausaufgaben unter bestimmten Umständen zumindest einen geringfügigen Nutzen haben können. Nämlich dann, wenn sie individuell an das Kind angepasst werden (Interesse, Anspruchsniveau, Umfang) und in zum Kind passender Lernumgebung stattfinden. Und wann passiert das schon so? Vorbereitende Hausaufgaben (z.B. sich im Vorfeld über ein Thema informieren) haben auch leicht positive Effekte, allerdings nur, wenn das entsprechende häusliche Umfeld besteht. Und da wären wir wieder bei der Schere.
„Trotzdem sind ausreichende Übungsphasen natürlich unerlässlich.“ -
Man denke ans Einmaleins. Wie gesagt, Lernen braucht auch das. Nur stellen all die bisherigen Erkenntnisse völlig berechtigt in Frage, ob dies durch die gängige Hausaufgabenpraxis zu erreichen ist. Vielmehr zeigt sich, dass Kinder (und zwar vor allem die, die eben zu Hause aus den verschiedensten Gründen nicht permanent unterstützt werden können) sehr von schulischen Übungsphasen, die von Lehrkräften oder anderen Pädagogen*innen begleitet werden, profitieren. In guten Ganztagskonzepten versucht man dies zum Beispiel umzusetzen. Aber auch ohne Ganztag ginge das. Wenn die Stofffülle geringer wäre und mehr Zeit für Vertiefung. Kein Durchhetzen. Und wie so oft scheitert es an all den Grenzen, die da eben in der derzeitigen Schulwelt so sind.
Für mich persönlich ist die Frage nach Hausaufgaben klar zu beantworten. Wir brauchen sie nicht. Nicht in dieser Form. Wir bräuchten so viel anderes. Bleibt abschließend also nur noch eine Frage zu klären: Wer designed eigentlich Bussitzemuster?
Fotos – Vidhya Schröder @liebe_im_quadrat