Elternsein & Geburt
Meine Beispielwoche
Eine Regenbogenfamilie erzählt, warum sie sich auch im Jahr 2021 noch wie eine Attraktion fühlt.
von Bjoern Behr - 09.02.2021
Wir, das sind Christian, der vierjährige Lukas alias Zwergi, Labrador Anton und ich Bjoern. Wir führen ein ganz normales, spießiges Leben auf dem Land. Christian arbeitet bei einer großen deutschen Airline als Kabinenchef, ich bin bei einem privaten Fernsehsender tätig. Klingt bisher irgendwas doch nicht ganz normal? Na ja, wir sind eben zwei Jungs, seit zehn Jahren ein schwules Männerpaar, seit sechs Jahren verheiratet und seit zwei Jahren Väter von einem Pflegesohn.
Als wir uns vor 20 Jahren outeten, begruben wir beide das Thema Kinder und Familiengründung. Damals war es eben nicht ansatzweise vorstellbar, dass homosexuelle Paare auch Nachwuchs haben können. Weder das Gesetz noch die Gesellschaft waren damals so weit. Als es dann vor einigen Jahren plötzlich „Ehe für alle“ hieß, war klar, dass wir unseren Kinderwunsch auch in die Tat umsetzen wollen. Zuerst kam das Thema Adoption auf, wir durchliefen den kompletten Bewerbungsprozess, um schnell auf den Boden der Tatsachen zu gelangen. Die Wartezeit sowie die Wahrscheinlichkeit, in Betracht gezogen zu werden, waren einfach nicht auf unserer Seite. Und so beschäftigten wir uns immer mehr mit Pflegekindern. Ich muss eingestehen, dass mich diese Option anfangs emotional abgeschreckt hatte. Ich sah vor mir, wie wir ein Kind großzogen, um es dann ein paar Jahre später abgeben zu müssen. Eine Vorstellung, die uns den Boden unter den Füßen wegzog.
Allerdings gibt es in unserem benachbarten Landkreis das System der vorgelagerten Bereitschaftspflege. Das heißt: Hier werden die Kinder als Säuglinge in Obhut genommen, kommen erst einmal in eine Kurzzeitpflege und es wird abgeklärt, ob sich die Eltern in absehbarer Zeit wieder fangen und es eine Möglichkeit der Rückführung gibt. Wenn dem nicht so ist, ca. sechs bis zwölf Monate später, wechseln sie in eine Dauerpflegefamilie. Der Vorteil ist, dass das Kind dort ankommen, eine Bindung aufbauen und mit einer sehr großen Wahrscheinlichkeit auch dort bleiben kann – so eine Familie sind wir jetzt.
Wie unsere Wochen aktuell während des Lockdowns so aussehen, haben wir für euch aufgeschrieben. Und nein, Regenbögen und rosa Teppiche (ein viel genanntes Klischee!) kommen nicht drin vor.
Viel Spaß beim Lesen!

MONTAG

Seit dem Einzug von Lukas hat sich so unendlich viel in unserem Leben verändert. Ich war ein Jahr in Elternzeit, bevor ich wieder meinem Vollzeitjob nachgegangen bin. Christian hat, bedingt durch seinen Kabinenchef-Job, die Möglichkeit, auch viel Zeit zuhause zu verbringen. Die Pandemie hat das System dann noch einmal komplett umgeworfen. Wir sind beide jetzt meist im Homeoffice und erleben so eine sehr enge Familienzeit. Wir wechseln uns im Alltag ab – doch aktuell kann sich Christian natürlich tagsüber mehr um Lukas kümmern, da er aktuell nicht fliegt. Ich übernehme dann nachmittags.
Für Lukas sind wir seine Familie, Kontakt zu seinen Eltern gibt es momentan nicht. Er stellt unser System noch nicht infrage, für ihn ist es das Normalste auf der Welt, dass sich zwei Papas um ihn kümmern. Er nimmt uns in den Arm und sagt: „Wir sind eine Familie.“ Und das sind wir auch! Uns war wichtig, dass er Papi und Papa zu uns sagt. Wir empfinden es als sein Recht, dass er Eltern benennen darf, völlig egal, ob es nun seine leiblichen Eltern oder seine Pflegeeltern sind. Ist man „Eltern“ nur, weil man leibliche Kinder hat? Ist man nur Papa, wenn man das Kind gezeugt hat? Ein klares NEIN an dieser Stelle von uns!
Irgendwann wird es mit Fragen losgehen. Irgendwann wird die Frage aufkommen, wo eigentlich seine Mama ist. Hier werden wir bestmöglich vorbereitet sein und seine Fragen offen und kindgerecht beantworten.
Besonders freuen wir uns darüber, dass Lukas, wenn nicht gerade Lockdown ist, den Kindergarten liebt. Wir hatten bisher tatsächlich keinen Tag, an dem wir unseren Sohn weinend dort abgeben mussten und unser Gewissen maximal belastet wurde. Heute bleibt er jedoch zuhause und wir wechseln uns ab, so gut wir können. Ansonsten passiert an diesem Tag nicht viel. Wir starten die Woche langsam.

DIENSTAG

Verlief der Montag noch ganz ruhig, so gibt es bei uns mittlerweile ein Dienstagstief. Ich bin seit zehn Monaten im Homeoffice, Christian ist in Kurzarbeit, aber immer mal wieder im Büro. Die momentane Zeit und Arbeitssituation ist eine riesige Herausforderung für uns alle. Wir wissen dabei sehr genau, dass es uns in dieser Pandemie sogar noch verhältnismäßig gut geht. Was uns aber nicht daran hindert, immer mal wieder auch einen Koller zu bekommen. Urplötzlich werden dann aus Mücken Elefanten gemacht und wir fragen uns drei Minuten später, woher diese Gefühlsschwankungen denn kamen. Da ist es bei uns nicht anders als bei allen anderen auch. Wir diskutieren, wir streiten, wir zanken und vertragen uns. Haben wir früher als Paar über uns philosophiert, so ist heute immer das Kind unser größtes Gesprächsthema. Es geht um Uneinigkeit, um verschiedene Ansätze, um Unverständnis, um Erziehung. Wir haben gelernt, dass diese Reibungspunkte wichtig sind. Genauso wichtig ist aber auch, dass wir uns anschließend wieder in den Arm nehmen und gemeinsam nach vorne schauen können.
Vor eineinhalb Jahren haben wir angefangen, vor allem bei Instagram ganz laut für Regenbogenfamilien und deren Akzeptanz in der Gesellschaft sowie für das Thema Pflegekind zu trommeln.

„Denn wenn jemand glaubt, dass andere Familienmodelle – neben Mama, Papa, Kind – in allen Köpfen angekommen sind, dann täuscht er*sie sich leider gewaltig.“ -

Und solange das so ist, versuchen wir den Spagat zwischen „wir sind doch total normal“ und „schaut mal, wir sind anders und wollen, dass das irgendwann mal nicht mehr so ist“ ganz offen zu zeigen. Mittlerweile haben wir eine tolle Community, die wir an unserem Leben teilhaben lassen.
Wir freuen uns über all die wunderbaren Menschen, die uns ein positives Feedback geben. Und wenn wir dann auch noch, völlig egal in welcher Familienkonstellation lebend, Menschen neugierig auf das Thema Pflegekind machen können, dann sind wir glücklich. Denn es gibt so viele kleine Menschen da draußen, die es nicht so gut haben und sehnlichst ein Zuhause suchen, das haben wir in unserem Prozess lernen müssen.
Es gibt in Deutschland viele Kinder, die in Pflegefamilien wechseln würden. Es schrecken jedoch viele, die sich damit auseinandersetzen, vor der Herausforderung zurück. Einige Kinder haben schließlich große Rucksäcke an traumatischen Erlebnissen, die sie mitbringen. Wenn es Besuchskontakte mit den leiblichen Eltern gibt, sind sie meist mehr als herausfordernd. Oft haben die ungeborenen Kinder Gewalt in der Schwangerschaft, Drogen oder Alkohol mitbekommen. Das musste uns im Vorhinein erst mal klar werden und trotzdem konnten wir uns andere Möglichkeiten wie Leihmutterschaft oder Co-Parenting nicht vorstellen. Wir bereuen unsere Entscheidung keineswegs. Im Gegenteil. Wir sind sehr glücklich damit und der Herausforderung mehr als gewachsen.

MITTWOCH

Heute waren wir nach der Arbeit in einem Supermarkt. Ist es nicht toll, wenn es in öffentlichen Bereichen Wickeltische auf dem Frauenklo gibt? Hat aber auch mal jemand darüber nachgedacht, wo all die Papas da draußen wickeln sollen? Okay, oft erzählen wir dann einfach beherzt – im Frauenklo stehend –, dass wir schwul seien, aber das ist ja auch nicht in jeder Konstellation angebracht. Generell nehmen wir die Genderdiskussion nicht persönlich. Die Gesellschaft verändert sich, also gibt man dem Ganzen auch Zeit und Raum und hofft auf Veränderung. So lange stellen wir uns eben auch auf Familienparkplätze, die eine Frau mit Kind auf dem Hinweisschild zeigen. Viel mehr würden wir uns aber darüber freuen, wenn wir endlich nicht mehr in neuen Umgebungen die volle Aufmerksamkeit auf uns ziehen würden. Es fühlt sich immer so an, als würde die Musik aus- und der Spot angehen, wenn wir den Raum betreten.
In unserem Umfeld sind wir als Regenbogenfamilie zu 100 Prozent angekommen. Niemand begegnet uns mit Sprüchen oder negativen Blicken. Wir werden respektiert und vor allem Lukas wird wie jedes andere Kind behandelt. Für unsere Eltern ist er der Enkel, im Kindergarten kommen eben Papa und Papi vorbei. In der Öffentlichkeit erleben wir meist Neugierde. Man sucht den Kontakt zu uns, um die Familienkonstellation zu begreifen. Es fällt visuell auf, wenn zwei Männer mit einem Kind um die Ecke kommen. Trotzdem würden wir uns hier ein wenig mehr Normalität wünschen.

DONNERSTAG

Ganz zaghaft kommt heute das Thema Urlaub auf. Wir wollen in diesen Zeiten einfach etwas Motivation in den grauen Alltag bringen, auch wenn unklar ist, wie das Jahr aussehen wird. Als Paar sind wir immer viel herumgereist und auch Lukas hat schon viele Orte und Länder gesehen. Als aber vor ein paar Monaten klar wurde, dass das in dieser Form nicht so ganz schnell wiederkommen wird, haben wir uns entschieden, einen Wohnwagen zu kaufen.
Wir sind beide zwar als Camping-Kinder aufgewachsen, hatten diese Urlaubsform über die Jahre aber ein Stück weit verdrängt. Da Camping heute nicht mehr das gleiche Image hat wie früher, komfortabler geworden und ein Kind eingezogen ist, hat uns der Gedanke nicht mehr losgelassen und wir haben uns gewagt einen Camper zu kaufen. Vorher haben wir extra einen Wohnwagen geliehen, um zu testen, ob das wirklich zu uns passt. Und siehe da, wir drei haben es geliebt. Voll ausgerüstet und eingerichtet sind wir nun bereit für unsere neuen Abenteuer. Eins davon planen wir heute schon mal ausführlich und können uns dann gemeinsam darauf freuen.

FREITAG

So kurz vor dem Wochenende, direkt nachdem der Laptop zugeklappt wurde, gibt es nichts Schöneres, als einen Familienspaziergang über die Felder zu unternehmen. Wir sind sehr viel draußen und lieben die Natur um unser Dorf herum, in dem wir leben. Man kann stundenlang durch die Wälder oder über Wiesen laufen, direkt vor unserer Haustür. Dass diese Ausflüge vor allem unserem Labrador Anton gefallen, steht natürlich außer Frage. Lukas ist aber auch ein totaler Outdoor-Liebhaber. Er will alles entdecken, anfassen, erleben und zeigen. Bevor es losgeht, wird kurz gecheckt, welches zur Verfügung stehende Gefährt mitgenommen wird – meistens ist es sein Laufrad. Wir verlieren die Zeit aus den Augen und kommen im Dunkeln nach Hause. Mit dieser Energie und frischen Luft im Körper freuen wir uns auf einen gemütlichen Abend und das anstehende Wochenende!

SAMSTAG

Normalerweise bekommen wir am Wochenende gern Besuch von guten Freund*innen – darunter auch einige Regenbogenfamilien. Es ist uns total wichtig, dass wir Lukas zeigen, dass es da draußen noch viel mehr solcher Familienmodelle gibt –beispielsweise zwei Mamas – und er nicht allein mit zwei Papas dasteht.
Und seien wir ehrlich … vor allem am Anfang haben wir ganz oft bei unseren befreundeten Mamas nachgefragt, was sie in den einzelnen Situationen machen, egal ob Krankheit, Entwicklung oder Verhalten. Aber irgendwie ist es etwas ganz anderes, wenn man sich mit anderen Papas, also zwei Papas in einer Familie, austauscht. Weil sie eben noch ein bisschen besser verstehen, was genau in einem vorgeht.
Bis wir uns wieder mit anderen Familien treffen dürfen, skypen wir miteinander und tauschen uns so aus. Das ist zwar nicht das Gleiche, tut aber auch mal gut.

SONNTAG

Am Sonntag skypen wir dann auch mit den Omas und Opas. Beide Familien wohnen leider weiter weg, sodass ein Kurzbesuch eher nicht an der Tagesordnung und aktuell ja auch nicht erlaubt ist. Da müssen wir eben alle Kontaktmöglichkeiten ausnutzen, die die moderne Welt so hervorbringt. Mittlerweile laufen die Gespräche etwas geordneter ab, alle verstehen zu 80 Prozent, was Lukas an Geschichten erzählt, gepresst in doch verhältnismäßig wenig Zeit. Lukas will das Handy natürlich selbst halten und allen ein neues Spielzeug oder selbstgemaltes Bild zeigen, manchmal ist das dann eben eher die Zimmerdecke oder seine Haarfrisur. Aber den Omas und Opas ist es am Ende egal, sie freuen sich, mal wieder festzustellen, wie sehr ein Kind in einer Woche doch wachsen kann und wie viel Worte mehr aus diesem Mund herauskommen. Und wir? Wir vermissen manchmal die Möglichkeit, dass Lukas diesen Austausch länger genießen kann, ebenso wie wir, dadurch hätten wir natürlich auch mal etwas mehr Zeit für uns.
Dafür haben wir dank des Campers etwas, worauf wir uns freuen können. Deshalb heißt es noch mal Zähne zusammenbeißen und dann hoffentlich schon bald spannende Touren zu dritt unternehmen. Wir sind bereit!
Wer noch mehr von Christian und Bjoern erfahren möchte, findet die beiden hier auf Instagram. 

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