Vor einiger Zeit geriet ich in eine dieser kleinen Situationen im Alltag, in denen scheinbar nicht viel passiert, aber man den Moment trotzdem lange mit sich herumträgt. Ich stehe in der Supermarktschlange, im achten Monat schwanger, meinen einjährigen Sohn auf dem Arm haltend, vollbepackt, im warmen Laden mit dickem Winterpulli, den Kinderwagen neben mir und nichts bewegt sich. Mein Kind wird etwas ungeduldig. Nach 10 Minuten akrobatischer Windungen auf meinem Arm setze ich ihn zunehmend verschwitzt in den Kinderwagen. Er wehrt sich, quengelt und versucht, sich aus den Sitzgurten zu winden, die ich ihm mit Mühe anlege.
Solche Situationen strengen mich körperlich und mental an. Ich bin angespannt, versuche, mein Kind zu beruhigen, während ich merke, wie gestresst es von der Situation ist. Die Leute ohne Kinderbegleitung vor und hinter mir in der Schlange haben Zeit, die Situation zu beobachten, weshalb meine Anspannung noch steigt, während ich versuche, mein Kind, das sich Millimeter vor einem akustischen und körperlichen Breakdown befindet, zu besänftigen.
Nebenbei krame ich die Tasche und den Geldbeutel fürs Bezahlen aus dem Kinderwagen, suche den Schnuller in der Hosentasche, achte darauf, nicht zu viel Platz einzunehmen, in der Schlange vorzurücken und dabei niemandem mit dem Kinderwagen in die Waden zu fahren. Diese Situation ist schon ohne Baby im Bauch herausfordernd, hochschwanger hingegen bin ich verwundert, dass noch niemand auf die Idee gekommen ist, das als olympische Disziplin anzumelden. Als ich mein Kind endlich angeschnallt und einigermaßen beruhigt habe, richte ich mich endgültig verschwitzt auf und atme durch.
Eine ältere Dame dreht sich vor mir lächelnd in unsere Richtung und erklärt mir gut hörbar für alle in der Warteschlange, dass mein Kind viel zu alt für den Kinderwagen sei und ich als Mutter doch sehen müsse, dass der Kleine einen Bewegungsdrang hat, dem man nachkommen müsse in diesem Alter. Ich höre schon an ihrem Ton sofort, dass ihr Verhalten grenzüberschreitend ist.
Leider reagiere ich wie so oft trotzdem bei solchen kleinen verbalen Angriffen schizophren, mit einer Art selbst erzeugten Text-Bild-Schere. Denn da ist einerseits in mir eine klare Stimme, die sich empört erhebt, weil ich ja bemerke, wenn Unrecht geschieht.
„Es hat einige Jahre gedauert, aber inzwischen weiß ich gut, wo genau meine Grenzen sind und wie es sich anfühlt, wenn jemand sie überschreitet.“ -
Trotzdem ist andererseits meine Reaktion oft komplett konträr zu diesem guten inneren Unrechtskompass. Denn nach außen reagiere ich pseudohöflich, so auch in diesem Fall. Ich fange an, mich zu rechtfertigen, als würde ich meinen 30-jährigen Sohn vor mir im Kinderwagen sitzend durch die Gegend schieben.
Dann werbe ich bei der grenzüberschreitenden Person auch noch um Verständnis und mache beschwichtigend auf meine Schwangerschaft und den Babybauch aufmerksam, der schmerzt, wenn ich das Kind zu lange durch die Gegend trage. Aufgesetzt freundlich, aber eben freundlich fange ich an, dieser wildfremden, übergriffigen Person in der Supermarktschlange zu erklären, dass mein Kind erst seit ein paar Wochen läuft und wir den Kinderwagen deswegen noch oft brauchen.
Natürlich merke ich an ihrem Gesichtsausdruck, dass meine Antwort für ihren Kommentar irrelevant ist. Sie hatte schon mit dem Aussprechen ihres herablassenden Ratschlags entschieden, dass ich es nicht besser wissen kann. Nach meinen Ausführungen wirft sie mir noch einen mitleidigen Blick zu und dreht sich kommentarlos um. Ich stehe weiter in der Schlange, versuche mir meine Wut und Verletzung nicht anmerken zu lassen, während mein Kopf heiß wird und ich rote Wangen bekomme.
Nach dem Bezahlen verlasse ich schnell den Ort und sage mir, dass das eine harmlose Situation mit einer kleinen Irritation war. Nichts, was mich wirklich aus der Bahn wirft oder verunsichert. Trotzdem gehe ich solche kleinen, vermeintlich harmlosen Momente und meine Reaktion immer und immer wieder im Kopf durch. Ich überlege, welche Antworten schlagfertig gewesen wären, frage mich, wie unangenehm diese Momente werden, wenn meine Jungs älter sind und sehen, wie ihre Mutter behandelt wird, oder sie im schlimmsten Fall sogar lernen, dass das ein irgendwie akzeptables Verhalten sei.
Es kostet mich so viele Momente kurz vorm Einschlafen, in denen mein Gehirn Jahre später auf die Idee kommt, einen großen, gut sortierten Ordner voller Fail-Situationen aus der Versenkung zu kramen und mir fein säuberlich zu servieren.
„Und so rege ich mich immer wieder neu auf, verspreche mir, beim nächsten Mal mehr für mich einzustehen.“ -
Nur, um dann irgendwann trotzdem wieder nach innen wütend und nach außen pseudohöflich zu sein.
Ich erkläre mir mein eigenes Verhalten mit zwei verschiedenen Ansätzen. Zum einen sind mir solche Grenzüberschreitungen von anderen Personen so unangenehm, dass ich mit der falschen Höflichkeit versuche, eine Situation zu retten, die von der anderen Person bereits zerstört wurde. Manchmal klappt das auch. In einigen Fällen, besonders bei Männern, kann diese Deeskalation sogar nützlich für die Eindämmung einer größeren Auseinandersetzung oder körperlicher Gewalt sein. Oft ist es nach meiner Erfahrung aber leider auch die Einladung, sich weiter ungut behandeln zu lassen.
Außerdem ist da noch eine zweite Erklärung, die mich mit der Zeit immer wütender werden lässt. Wir leben in einer Gesellschaft, die Mädchen und Frauen lehrt bescheiden, zurückhaltend und defensiv zu sein.
„Schlagfertigkeit wird oft mit Unverschämtheit oder Respektlosigkeit verwechselt.“ -
Während der letzten „Wetten, dass …“-Sendung Ende November musste sich Shirin David, die zu diesem Zeitpunkt erfolgreichste Rapperin des Landes, von Thomas Gottschalk sagen lassen, dass man ihr die Leidenschaft für die Oper und ihren Feminismus gar nicht ansehen würde. Sie reagierte schlagfertig und stark. Natürlich musste sie sich später in den Kommentarspalten trotzdem noch von einigen Online-Rambos anhören, wie frech und respektlos ihr Verhalten gegenüber Gottschalk gewesen sei.
Vor allem Frauen kommen immer wieder in die Situation, sich für Entgegnungen zu rechtfertigen, ohne dass sich auch nur eine Sekunde die Mühe gemacht wird, die ursprüngliche Entgleisung zu bewerten. So wird das geistige Fundament einer Täter-Opfer-Umkehr gelegt. Die Diskussionen um solche Momente fangen oft mit der Kritik an der Gegenwehr statt am initialen Angriff an. Darin steckt nur schlecht verborgen ein Freibrief für übergriffiges Verhalten gegenüber Frauen. Hättest du dich nicht gewehrt, dann hättest du jetzt nicht so viel Ärger.
Für mich steckt in Shirin Davids Reaktion an diesem Abend aber eine Erkenntnis, die als Gamechanger für meine künftigen Situationen dieser Art funktioniert. Deshalb bin ich auch sehr dankbar, dass die Sendung live ausgestrahlt wurde und niemand die Möglichkeit hatte, diesen Schlagabtausch rauszuschneiden.
„Schlagfertigkeit ist keine angeborene Fähigkeit – wir müssen sie sehen, verstehen, nachahmen und wiederholen, bis wir sie verinnerlicht haben.“ -
Es geht darum, eine Haltung zu entwickeln, die so stabil und präsent ist, dass sie jederzeit und eben auch in sozialen Drucksituationen für eine kluge Reaktion abgerufen werden kann. Aber es gibt ein eigentlich recht einfaches Rezept, um in der Konfrontation nicht sofort unterzugehen.
Statt sich komplizierte inhaltliche Gegenargumente auszudenken, für die man hätte viel erklären müssen, wiederholte Shirin die Vorwürfe einfach in einer Frage. Sie entgegnete: „Wieso sieht man mir die Leidenschaft für die Oper nicht an?“ und dann: „Wieso sehe ich für dich nicht wie eine Feministin aus?“. Fragen, die nicht nur Zeit verschaffen, sondern den Rechtfertigungsdruck elegant an die grenzüberschreitende Person zurückspielen. Diese Strategie lässt sich gut mit einer Erkenntnis von Sokrates erklären, die ich bei der Journalistin Sally Starken las: „Wer fragt, der führt, und wer führen will, muss fragen.“
Während ich mir also meine Schlagfertigkeit oft mit einem hohen Anspruch an eine kluge, unterhaltsame, verständliche, klare Ansage genommen habe, übersah ich, dass eine Frage in diesen Situationen genauso stark wirken kann. Natürlich wäre es ideal, wenn wir in einer Gesellschaft leben würden, in der solche Grenzüberschreitungen gar nicht erst passieren und man sich keine Reaktionsstrategien überlegen müsste.
„Aber so lange das noch der Fall ist, können Gegenfragen zu weniger schlaflosen Nächten führen.“ -
Und so nehme ich mir wie in all den anderen Situationen vor, beim nächsten Mal besser für mich einzustehen, mit dem kleinen Unterschied, dass ich dieses Mal einen einfachen Plan habe, der sich erfüllbar anfühlt.
Shirin David, machte vieles von dem, was mir inzwischen erst klar ist, schon mit Erscheinen ihres letzten Albums für uns alle zugänglich. Im Track „Lächle doch mal“, der davon handelt, dass sie spaßeshalber das Verhalten übergriffiger Männer als Frau übernimmt, gibt es Zeilen, in denen klar wird, dass sie nicht erst seit der „Wetten, dass …“-Sendung verstanden hat, wie man einer Welt begegnet, in der sich vor allem Frauen vorzugsweise lächelnd zurückhalten sollen. So rappt sie: „Bist du zu nett zu mir, merkst du, wie ich Respekt verlier“ oder „Ich sexualisiere das Objekt in dir, weiß, was für dich das Beste ist und dass es keine Grenze gibt“. Worte einer Frau, die ein feines Sensorium für Grenzen hat und weiß, dass sie diese mit aller Kraft verteidigen muss. Ich wünsche mir und uns allen ein bisschen mehr Shirin im Leben.
Eure Jule