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„Kennt ihr das Gefühl vor der Bescherung an Weihnachten? Dieses Kribbeln? Und man kann gar nicht stillsitzen? So ist es. Nur eben immer. Oder kennt ihr das, so von eurem Handy abgelenkt zu sein, dass ihr nur dumpf wahrnehmt, wie ihr gerade eure Haltestelle verpasst? So ist es. Nur eben immer.“
Die Praxis, die ich betrete, ist nicht besonders groß. Helle Farben, eine kleine Sitzecke, ein aufgeräumter Schreibtisch. Mein Herz pocht, mein Kopf macht Purzelbäume. In meiner Hand knistert der Parkschein. „Hallo, Frau Niechzial, schön, dass Sie es geschafft haben. Bitte setzen Sie sich!“, werde ich von einer freundlichen Frau mit sanfter Stimme begrüßt. Sie ist Psychiaterin. Und ab heute ist sie meine Psychiaterin. „Erzählen Sie doch noch mal in aller Ruhe, was Sie heute zu mir bringt.“ Ja, was hatte mich hierhergebracht? Warum saß ich jetzt in diesem grau gemusterten Polstersessel, meine alten Schulzeugnisse in der Hand und 35 Jahre Erfahrung im Gepäck, irgendwie nicht ganz zu passen?
Ich knibble an meinem Parkschein und beginne herumzudrucksen: „Also, ich wollte mal schauen, also wollte mal fragen, weil ich bin manchmal so unruhig. Und ich hab gedacht oder, nein, ich hab gelesen, dass es auch bei Erwachsenen sein kann. Also, dass man das noch haben kann. Da wollte ich mal nachgucken lassen. Jedenfalls. Aber vielleicht ist es ja auch gar nicht so schlimm. Dann weiß ich das mal. Also ja.“ Ich rede mich um Kragen und Kopf. Mal wieder.
Die Psychiaterin wartet geduldig. „Was vermuten Sie denn zu haben?“, fragt sie mich ganz ruhig. „Ach so, ja. Also ADHS. Oder sowas vielleicht“, antworte ich und merke, wie ich schwitze. So ausgesprochen kommt es mir plötzlich sehr albern vor. Doch dann unterbricht ein „Sie sind hier genau richtig“ meine Gedanken und meine Diagnostik beginnt.
Zuerst reden wir über meine Kindheit. Ich erzähle von ständigen Ängsten, von Überdrehtheit, von einem Mund, der wirklich niemals stillstand, und von einem Kopf, der seine Umgebung ohne Pause mit Fragen löcherte.
„„Du warst kein einfaches Kind“ – ein Satz, den ich oft gehört habe.“ -
Die Psychiaterin nickt und notiert sich etwas.
Dann folgt die Schulzeit. Meine Psychiaterin blättert sich durch die mitgebrachten Zeugnisse. „Findet zögerlich Anschluss“, „leistungsstark, aber schnell ablenkbar“, „häufige Flüchtigkeitsfehler“, „mündliche Beiträge bereichern den Unterricht außerordentlich, doch die Mitarbeit schwankt“ – all diese Sätze werden zu Hinweisen, die ich nie als solche gelesen habe. Meine Noten waren solide, immer leicht unter Radar. In einem Jahr ein rapider Leistungsabfall und versetzungsgefährdet, weil die erste große Liebe und die große Pubertät mich völlig überforderten. Wer kann da noch Schule reinquetschen? Dann plötzlich eine extreme Verbesserung. „Wissen Sie noch, wie Ihnen das plötzlich geglückt ist?“, fragt die Psychiaterin interessiert. „Da war eine Lehrerin, die hat mich unterstützt. Und der wollte ich zeigen, was ich wirklich kann.“

Über Studium, mein Berufsleben und meine ersten Schritte als Mutter kommen wir nach und nach ins Hier und Jetzt. Wir arbeiten uns behutsam durch Screenings und Fragebögen. Auch ein Intelligenztest ist dabei. Und mit jeder Frage werde ich gelöster und offener. Ich bin schonungslos ehrlich zu mir. Und so langsam bröckeln die Tomaten von den Augen. Vielleicht bin ich wirklich genau richtig hier. Ich erzähle von all den paradoxen Dingen, die mich täglich begleiten. Wie ich riesige berufliche Projekte stemme, aber damit überfordert bin, mich morgens anzuziehen. Dass ich, ohne mit der Wimper zu zucken, der spontanen Idee folge, allein mit drei Kindern zu verreisen, aber es mir nicht gelingt, regelmäßig eigene Mahlzeiten in meinen Tag zu integrieren.
Dass ich vor vielen Menschen täglich im Internet spreche, aber mich nicht traue, meine Frauenärztin anzurufen und einen Termin zu machen. Dass ich noch genau weiß, was ich Weihnachten 1994 bekommen habe, aber mir auch nach so vielen Monaten noch nicht merken kann, wann mein Sohn Schulschluss hat. Dass mir Pünktlichkeit unglaublich wichtig ist, aber ich fast immer zu spät komme, weil ich zum Beispiel dem Impuls nicht standhalten kann, genau JETZT die Fensterbank neu zu dekorieren. Dass ich seitenlange Fachartikel schreibe, aber tage- oder wochenlang nicht auf Nachrichten antworte. Dass ich mich eigentlich gern mit Freund*innen treffe, aber es zunehmend meide. Weil ich mich hinterher grundsätzlich schlecht fühle, wenn ich wieder zu viel geredet habe. Dass es mich wahnsinnig macht, wie langsam mein Mann denkt. Dass ich einem wichtigen Gespräch nicht mehr folgen kann, weil die Wand im Café rot ist. Dass ich abends nicht ins Bett komme, weil ich keine Müdigkeitssignale wahrnehme. Dass mir gemeinsame Familienessen schwerfallen, weil man da nur sitzt und nichts macht.
Irgendwann ist alles gesagt. Jede Frage beantwortet. „Ich kann kaum glauben, dass Sie erst nach so vielen Jahren kommen“, beendet meine Psychiaterin die Diagnostik. Das Ergebnis ist eindeutig. Und während sie „Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung“ in den Befund tippt, sitze ich da und starre auf meine Füße. Heute Vormittag hatte ich noch Angst, dass ich ausgelacht und wieder nach Hause geschickt werde, und jetzt kann ich kaum glauben, wie ich das alles so lange nicht sehen konnte.
„„Es sind vor allem Frauen, die zu mir kommen“, errät die Psychiaterin meine Gedanken. „Sie können nichts dafür.“ -
Die Forschung ist unausgeglichen. Ausprägungen, Diagnostik, Therapien werden in der Fachliteratur überwiegend anhand junger, männlicher Patienten beschrieben. Die Symptome können bei Mädchen anders aussehen und sich eher nach innen richten. Die Erziehung Ihrer Zeit bestärkt das Bild des folgsamen, ruhigen Mädchens. Sie sollen möglichst wenig auffallen. Also fließt viel Energie in die Unterdrückung der Symptome. Gepaart mit Ihrer Intelligenz haben Sie über einen immensen Zeitraum geschafft, ohne großes Aufsehen zu „funktionieren“. Und jetzt sitzen Sie hier genau wie schon so einige Frauen vor Ihnen. Voller Schamgefühle, Selbstvorwürfe und mit einem geringen Selbstwertgefühl. Aber nun wissen wir Bescheid. Und jetzt bekommen Sie die Unterstützung, die Ihnen zusteht.“ Wir legen fest, dass ich es mit einer speziellen Ergotherapie versuche. Und in drei Monaten habe ich einen Termin zur Besprechung einer medikamentösen Behandlung.
Dann verlasse ich die Praxis, den zerknüllten Parkschein in meiner Hand. Erst am Auto fällt mir auf, dass ich ihn auf die Ablage hätte legen müssen. Als ich nach Hause fahre, rollen ein paar Tränen. Eine Mischung aus Erleichterung, Schmerz und Müdigkeit. Meinem Mann erzähle ich zuerst davon. Er freut sich auf seine eigene, geerdete Weise, dass ich Klarheit habe. Und einen Weg.
Ich zögere, noch weiteren Menschen davon zu erzählen. Ich habe so eine Ahnung, in welche Richtung die Reaktionen gehen können. Und es zeigt sich, dass ich damit zumindest in meinem weiteren Umfeld nicht ganz Unrecht habe. Hier mal eine Auswahl aus „HOW NOT TO REACT“: „Du? ADHS? Meinst du nicht, das ist einfach Stress? Kein Wunder, bei deinem Pensum.“ Oder: „Also, wenn das ADHS sein soll, dann hab ich das auch.“ Oder: „Ich werd ja das Gefühl nicht los, dass Leute sich mit sowas halt auch schnell wichtig machen wollen.“ Oder: „Boah, aber nicht, dass du das jetzt immer als Ausrede nutzt.“ Mein engster Freundeskreis und meine Schwester sind zum Glück positive Beispiele der Reaktionskunst. Es gibt zwar auch hier ab und an kurze Verwunderung, aber ich erfahre ehrliches Interesse und vor allem Verständnis.
Ich bin gespannt auf die Zeit, die vor mir liegt. Auf die Aufarbeitung. Auf neue Impulse. Ich darf mich noch mal anders kennenlernen. Dinge neu bewerten. Wann ich es meinen Kindern erkläre, das weiß ich noch nicht. So bald ist das vielleicht auch gar nicht notwendig. Denn es geht ja nicht nur um die Hürden, die ADHS mit sich bringt. Sondern auch um all die Schätze. Und dazu gehört, dass ich auch mit 35 Jahren noch extrem begeisterungsfähig bin. Oder dass ich zuerst den Nachtisch esse, weil ich keine Geduld habe, die ganze Mittagsmahlzeit darauf zu warten. Und ich muss sagen, für meine Kinder fetzt das bisher ziemlich.
Fotos: Vidhya Schröder
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