Job & Finanzen
Ich nehm ein Sabbatical
Wer bin ich ohne meine Arbeit? Diese Frage stellte sich Cordelia Röders-Arnold während ihres viermonatigen Sabbaticals.
von Cordelia Röders-Arnold - 01.02.2023
Die Audiodatei gibt es hier als Download.
   
Gleich kommt’s – ich sehe es meinem Gegenüber an. Die sich langsam weitenden, strahlenden Augen. 3…, 2…, 1…: „Boah! Du machst ein Sabbatical? Ist ja ne super Idee!“ Auf die fröhlichen Glückwünsche entgegnete ich meist mit einem leisen Murmeln, das vermutlich immer als absolute Zustimmung interpretiert wurde. Denn was könnte denn bitte genialer sein, als ein paar Monate nicht zu arbeiten und dafür auch noch bezahlt zu werden? Eben! Heaven! Oder?
Ich hatte Schiss vor dieser Auszeit. Monatelang keinen „richtigen“ Job zu haben, nichts zu leisten. Schließlich hatte ich mein Leben lang gelernt, dass unsere Gesellschaft an meiner Produktivität misst, wie wertvoll ich bin. Ich hatte Angst. Angst vor der Antwort auf die Frage: „Wer bin ich, wenn ich nichts leiste?“ oder noch ein wenig tiefer den Finger in die Wunde der Leistungsgesellschaft bohrend:

„„Bin ich genug, wenn ich nichts leiste?““ -

Ab dem Tag, an dem wir mit unseren kleinen Kinderfüßen über die Schwelle einer Grundschule stolpern, geht es für uns um Leistung. Wir sind plötzlich nicht mehr das Mädchen, das auf dem Bolzplatz Bälle kickt oder Wasserbomben genauso befüllen kann, dass sie kompakt in der Hand liegen und weit fliegen. Wir sind nun „versetzungsgefährdet wegen Deutsch“ oder „gut in Mathe“. Also nicht ich, ich war nie gut in Mathe, genauso wenig in Physik, Erdkunde, Biologie.
Als ich mit 15 Jahren mit einer Sechs in Bio nach Hause kam, obwohl ich wirklich dachte, mir Mühe gegeben zu haben, tröstete mich meine Mutter und konnte sich dennoch nicht verkneifen zu sagen: „Du hättest genauso gut Smileys malen können.“ Vielleicht entwickelte ich auch deshalb ein so hohes Leistungsbedürfnis im Job, weil ich glaubte, beweisen zu müssen, dass ich mehr auf dem Kasten hatte, als die Schule mir 13 Jahre meines Lebens hatte attestieren wollen.
Meine Arbeit als Head of Menstruation bei einhorn, einem Berliner Start-up, das nachhaltig hergestellte Kondome und Periodenprodukte vertreibt und mit mutigen New Work-Ideen mit den Regeln konventioneller Arbeitskultur bricht, machte mir Spaß. Ein Job mit Sinn – oder auf Neudeutsch: Purpose. Einer, den ich leidenschaftlich gern tat, einer, für den ich brannte.

„Das Fiese am Brennen ist nur, dass man die Hitze zwischendurch mal runterdrehen muss.“ -

Das hatte ich über die letzten Jahre nicht ganz so gut hinbekommen. Ganz schön erschwerend gesellte sich ein dreijähriger, nach wie vor unerfüllter Kinderwunsch zu meiner Thematik hinzu: sechs erfolglose Behandlungen, zwei Fehlgeburten und eine Menge Trauma, gegen das ich lieber anarbeitete, als es zu verarbeiten. All das war mir ordentlich über den Kopf gewachsen.
Kurz nachdem unser Mitgründer Waldemar als Erster bei einhorn beschlossen hatte, ein halbes Jahr Auszeit zu nehmen und gemeinsam mit unserem Peoplerat (einem gewählten Gremium, das sich mit HR-Themen beschäftigt) vorantrieb, dass es diese Möglichkeit fortan für alle Mitarbeitenden geben sollte, schlug er mir vor, ebenfalls ein Sabbatical einzulegen. Dass ich mich nach fünf Jahren in derselben Rolle im Unternehmen irgendwie „stuck“ fühlte und mich gern dort weiterentwickeln wollte, war mir in der Zwischenzeit selbst klargeworden. Dass ich abgesehen davon aber auch ziemlich auf dem Zahnfleisch ging und einen Schritt zurück vom großen Gemälde des (Arbeits-)Lebens nötig hatte – für diese Erkenntnis benötigte ich den Impuls von außen.
Vielleicht war der entscheidende Part auch gar nicht die Feststellung, eine Pause zu brauchen, sondern die Legitimation dafür. Im Nachhinein überrascht es mich nicht, dass es einen Menschen benötigte, der sagte:

„„Es gibt übrigens auch Pausen und auch du darfst eine machen.““ -

Um nicht zu sagen, zwei Menschen, wobei meine Therapeutin es kurz darauf noch klarer formulierte. „Sie sollten eine Pause machen und sie sollte morgen beginnen.“
Im Gegensatz zu Beamt*innen und Angestellten im öffentlichen Dienst haben Arbeitnehmer*innen in der deutschen Privatwirtschaft keinen rechtlichen Anspruch auf ein Sabbatical, also eine mehrmonatige berufliche Auszeit. Dennoch gibt es bereits in vielen Unternehmen einzelne Menschen, die genau das für sich erkämpft haben. Es lohnt sich also, zu dem Thema am Arbeitsplatz das Ohr aufs Gleis zu legen, zu schauen, ob es bereits Regelungen gibt, und im Zweifel die Chefin oder den Chef direkt anzusprechen. Idealerweise hat man in dem Moment bereits einen Plan ausgearbeitet, wie die Auszeit vom Job für sich selbst finanziell und fürs Unternehmen organisatorisch funktionieren kann.
Bereits 2017 gab im Rahmen einer repräsentativen Studie von XING bereits jeder*r fünfte Arbeitnehmer*in zu Protokoll, mit einer Verschnaufpause vom Job zu liebäugeln – und diese Zahl wird in der zunehmend an Geschwindigkeit zulegenden (Arbeits-)Welt in den letzten Jahren eher gestiegen als gesunken sein. Das größte Hindernis ist sicherlich die Finanzierung. Möglicherweise ist einhorn das einzige Unternehmen in Deutschland, das es seinen Mitarbeitenden ermöglicht, so viele Monate ins Sabbatical zu gehen, wie sie zuvor Jahre im Betrieb gearbeitet haben. Und zwar bezahlt. Das ist ein riesiges Privileg, wenngleich ich wünschte, es wäre Normalität, denn von einer Auszeit profitieren beide Seiten.
Üblicher ist in den meisten Unternehmen, dass man ein paar Monate lang vor dem Sabbatical auf einen Teil des Gehalts verzichtet und die Differenz während der Auszeit ausgezahlt bekommt. All dies ist Verhandlungssache, aber trotz Inflation, Krieg und Krise ist der deutsche Arbeitsmarkt gerade bewegt wie nie zuvor und ich kann nur ermutigen, in diese Gespräche zu gehen und für ein Sabbatical zu kämpfen.
Kämpfen musste ich nicht. Nur mit mir selbst, denn es war mir unangenehm, dem Team zu sagen: „Leute, ich brauche eine Pause. Ich gehe auch für ein paar Monate weg (und lasse euch bei mindestens einem Großprojekt im Stich).“ Auch wenn mir in keiner Sekunde jemand das Gefühl gab, mich deshalb mies fühlen zu müssen, hatte ich ein großes schlechtes Gewissen. „Was denken meine Kolleg*innen jetzt von mir? Wollen sie überhaupt noch mit mir arbeiten, wenn ich zurück bin? Und was ist eigentlich, wenn sie blendend ohne mich zurechtkommen?“ Ich versuchte, mich daran zu erinnern, dass „die anderen“ oft deutlich weniger über einen nachdenken, als man selbst so meint. Daran, dass ich die Gedanken anderer Menschen nicht kontrollieren kann und sie im Fall der Fälle auch tendenziell weniger mit mir, als mit ihnen selbst zu tun haben. Es gelang mir nicht immer, aber oft genug, um an der Auszeit festzuhalten.
An einem sonnigen Tag im August trat dann statt dem gefürchteten großen Bedeutungsverlust doch die große Erleichterung ein, als ich all meine Projekte übergeben oder auf Eis gelegt hatte. Nach meinem letzten Übergabe-Meeting auf Zoom drückte ich auf den roten Auflege-Button, schloss die Augen und fing an zu weinen. Da war es – das unfassbare Gefühl von:

„Ich muss jetzt erst mal sehr lange gar nichts mehr!“ -

Orgasmen sind super, aber dieses Gefühl war krasser als alles andere. Ab dem Tag ging ich jede Woche zur Therapie, arbeitete meine Kindheit auf und fand das zwischendurch so anstrengend, dass ich mir insgeheim wünschte, stattdessen ein ganz dringendes Jobproblem lösen zu dürfen.
Im Oktober packte ich Mann und Dackel ein und fuhr mit dem Auto bis nach Sizilien. Ich machte Paragliding über dem Ätna, um wenigstens ein Sabbatical-Klischee zu erfüllen. Ich postete nichts mehr auf Social Media und genoss die Ruhe und Entspannung, die damit in mir einkehrte. Ich traf mich mit Menschen, die ich, obwohl sie mir am Herzen lagen, jahrelang nicht gesehen hatte, und stellte fest, dass man einander nicht das Zentrum der Welt sein muss, um tiefe Liebe füreinander zu empfinden. Ich begann wieder zu lesen. Ich las vier Bücher über Liebe und verstand, dass lieben kein Zustand ist, sondern ein Verb, im wahrsten Sinne des Wortes ein Tuwort. Ich las drei Bücher über Psychologie und verstand, dass ich nicht alles glauben sollte, was ich denke.
Als mein Vater ins Krankenhaus kam, besuchte ich ihn einige Wochen lang fast jeden zweiten Tag und wir fanden neu zueinander und als bei einer guten Freundin wichtige Termine kollidierten, holte ich ihr Kind aus der Kita ab. Mit Schokoeis-umrandeten Lippen tanzten wir stundenlang zur Titelmelodie von Feuerwehrmann Sam. Ich begann, Italienisch zu lernen, und schmiss nach drei Tagen wieder hin. Ich fuhr zweimal die Woche in den Stall zu meinem einäugigen Pflegepferd und brachte mir bei, wie man Pferdemist in einer Schubkarre maximal hochtürmt und sie trotzdem unfallfrei zum Misthaufen fährt.
Ich begann zu meditieren und machte es seitdem fast jeden Tag – zur Abwechslung ohne einer Menschenseele davon zu erzählen und dadurch meinen Selbstwert zu streicheln, einfach nur, weil es mir guttat. Ich ging zum ersten Mal in ein Yogastudio und dachte in der dritten Stunde plötzlich nicht mehr das, was ich mein Leben lang immer in Sportklassen annahm, nämlich: „Alle Profis hier, außer mir.“ Ich hörte auf, mich zu vergleichen, mich zu beurteilen.

„Zum ersten Mal fühlte ich mich so was wie genug in meiner bloßen menschlichen Anwesenheit.“ -

Einem spontanen Impuls folgend, packte ich meine Tasche, fuhr zum ersten Mal allein weg und saß abends mit einer neuen US-amerikanischen Freundin im Riesenrad über Edinburgh. Meine Beziehungen bekamen eine neue Qualität. Plötzlich saß ich nicht nur mit meinen Liebsten zusammen, ich hörte ihnen auch zu. Ich war da, ich war präsent.
Nach vier Monaten ist mein Sabbatical nun zu Ende und ich blicke ich mit einer unglaublichen Dankbarkeit auf diese Zeit zurück. Dankbarkeit dafür, die Gelegenheit und das riesige Privileg gehabt zu haben, mich zurückzubesinnen. Darauf, wer ich bin, wenn mein Arbeits-Ich überhaupt keine Rolle spielt. Wenn Leistung, Output und Erfolg herausgerechnet werden aus der großen Gleichung des Selbstwertes. Dankbar dafür, dass ich herausfinden durfte, was und vor allem wer in meinem Leben wichtig ist – ohne Meeting-Marathons, ohne wahnsinnig bedeutsame E-Mails und schwierige unternehmerische Problemstellungen, die mich bis in den Schlaf begleiteten. Dankbar dafür zu sehen, wie bunt und prall mit Sinn gefüllt mein Leben ist.
Und jetzt? Alle Akkus ordentlich vollgeladen und zurück in die vielzitierte „Hustle-Culture“? Nope! Einen über Jahrzehnte ins Hirn gemeißelten Glaubenssatz wie: „Ich bin nicht genug“ dreht man nicht mal eben in ein paar Monaten ins Gegenteil um. Auch das musste ich lernen.
Zurück im Job versuche ich, meine Routinen rund um mein Pferd, Meditation und die regelmäßigen, achtsamen (Handy vom Tisch!) Begegnungen mit lieben Menschen aufrechtzuerhalten. Gestern las ich einen Text von Prof. Robert Waldinger, einem 71-jährigen Psychotherapeuten und Wissenschaftler, der eine groß angelegte Studie über Glück in den USA betreut. Ihr Zwischenergebnis: Das, was bei uns Menschen über Glück oder Unglück entscheidet, sind nicht Geld und Erfolg, nicht ein von schwierigen Schicksalen verschontes Leben, nicht einmal ein „Impact“ oder Sinn, sondern die Wärme unserer Beziehungen. Ich schmunzelte darüber und nickte innerlich – für mich ergibt das heute so viel mehr Sinn als noch vor sechs Monaten.
Die guten Routinen aufrechtzuerhalten und meine Beziehungen zu wärmen, lief in den ersten drei Wochen zurück im Job ganz gut. Wie es mir gelingen wird, eine gesunde Abgrenzung zu meiner Arbeit hinzubekommen, ohne dogmatisch zu werden und mich dabei trotzdem wirksam zu fühlen, so als würde ich etwas bewegen – das wird die Zeit zeigen.

„Kann ich brennen, ohne anzukokeln? “ -

Muss ich brennen, um etwas zu bewegen? Vermutlich wird auch das, wie so ziemlich das meiste im Leben, ein ständiger Balanceakt bleiben. Mit dem Unterschied, dass ich heute weiß, wie es sich anfühlt, wenn es gut funktioniert. Und ich bin sicher, an diesen Ort finde ich immer wieder zurück.
Eure
Cordelia

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