Die Audiodatei gibt es hier als
Download.
Die Scham ist das Nummer-eins-Must-have, das mir das Patriarchat mit auf den Weg gegeben hat. Ich schäme mich, dass mein Körper noch nie so aussah, wie ich es mir vorstellte, dass er nicht so einwandfrei funktioniert, wie er sollte, und jetzt wickle ich ihn freiwillig in synthetisches Funktionsgarn mit hohem Stretchanteil, wie eine Larve, die ihr Kokon spinnt. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Angeblich wird es ja außerhalb meiner Komfortzone erst richtig spannend. Nicht nur für das Garn, auch für meinen Geist. Denn wie es das Klischee so will, hat mich mein Partner nach monatelangem Klagelied davon überzeugt, mir ein Gravel Bike anzuschaffen.
Würde sein Rad nicht regelmäßig unseren Flur verstopfen, wüsste ich vermutlich nicht mal, was das sein soll.
„Gravel Bike? Ein Fahrrad, das sich irgendwo zwischen Rennrad und Mountainbike bewegt.“ -
So genau nimmt es die Fahrrad-Community nicht. Die meisten haben eine rennradähnliche Geometrie, aber breitere Reifen. Der Vorteil daran: Wir können ab jetzt gemeinsam über Straßen, Waldwege, Bergpfade und Schotterpisten rattern. Was mein Körper dazu sagt? Und wie ich mich fühle, so mitten im Münchner Rennrad-Irrsinn? Als mir das erste Mal der Bund meiner Radler-Shorts gegen die Hüfte schnalzt, will ich das Bike am liebsten direkt wieder auf eBay verscherbeln. Zum Glück habe ich weitergemacht. Denn das Radeln würde in kürzester Zeit mein Mindset auf den Kopf stellen. Aber noch mal zurück auf Anfang.
Die Bike-Ausstattung für Anfänger*innen:
Alles beginnt mit dem richtigen Bike. Gar nicht so leicht, den Gravel Bikes sind die neuen Darlings der Radsport-Marken – entsprechend riesig ist die Auswahl. Die wichtigsten Komponenten: Rahmen, Schaltgruppe, Bremsen, Reifen. Ob Rahmen, Sattel und Laufräder zum*zur Fahrer*in passen, zeigt nur eine anständige Probefahrt, die man in den meisten Bike-Stores machen kann. Dort wird auch in Sachen Pedal, Schuh, Reifenprofil und Co. beraten. Das Gute a Gravel Bikes: Durch leichte Rahmen und die Möglichkeit, robustere Reifen als bei einem Rennrad zu nutzen, ist es auf unterschiedlichstem Terrain fahrbar, ohne groß an Speed zu verlieren. Rennräder mit Reifenbreiten von etwa 25 Millimetern stoßen dagegen schneller an ihre Grenzen und eignen sich ausschließlich für asphaltierte Straßen.
Ich habe mich für ein gebrauchtes Gravel Bike mit Alu-Rahmen, 2x10-Kettenschaltung und Scheibenbremsen von
Specialized entschieden, das auf eBay Kleinanzeigen auf mich gewartet hat. Da ich bislang keine Ahnung von der Technik hatte, bin ich mit einem, der sich auskennt, zum Verkäufer und habe eine Runde gedreht. Der Vorteil an gebrauchten Rädern: Sie sind oft fast wie neu. Während Corona wurden Gravel Bikes zum Megatrend, der bei vielen schnell verpufft ist. Sie kosten weniger und die Hürde für Anfänger*innen sinkt. Denn neben der Pellwurst-Klamotte hat mich auch der Preis für ein schnittiges Bike ziemlich abgeschreckt – das feine Zeug startet bei etwa 1.500 Euro, Outfit exklusive. Wer nicht direkt einen Kleinwagen ins neue Hobby investieren will, ist mit
eBay,
Buycycle oder
Recycle gut bedient.
Dann kommt die nächste große Herausforderung: die Wahl der richtigen Klamotte. Mittlerweile sind Fahrradklamotten zur Religion avanciert, auf Münchens Rennradpisten gelten Marken wie
Rapha,
Ryzon,
Maap oder
Pas Normal Studios zu den Lieblingen.
„Das Problem: Die Träger*innen sind häufig sehnige Triathlet*innen oder sehen zumindest so aus.“ -
Dass die Klamotten nicht für Menschen wie mich gemacht sind, die man heute halb wertschätzend, halb abwertend als „midsize“ bezeichnen würde? Geschenkt. Von dem Zeitpunkt an, als ich das erste Jersey in zwei Größen größer als üblich anprobierte und kaum Luft bekam, war mir klar: Das wird meine ganz persönliche Hölle. Und dass die Hersteller*innen bisher scheinbar nicht bemerkt haben, dass es auch Menschen mit Brüsten gibt, erleichtert die Sache nicht unbedingt.
Von Body Diversity ist der Radsport also noch Lichtjahre entfernt, was eine riesige, verpasste Chance darstellt: Wäre der Sport zugänglicher, könnten viel mehr Menschen von den riesigen Vorteilen profitieren, die Radsport auf den Körper hat. Und wenn man Brands damit nicht aus der Size-Zero-Moral rauskriegt, sollte zumindest klar sein, dass sich hier auch wirtschaftlich eine große Zielgruppe und damit Gewinn verabschiedet. Mittlerweile reagieren Brands aber zumindest darauf, dass immer mehr Frauen auf den Sattel steigen: Die Marke
Veloine produziert zum Beispiel ausschließlich für Frauen und deren Bedürfnisse am Bike, auch für Schwangere.
Die ersten Ausfahrten:
Jetzt steht es also in meinem Flur, dieses tomatenrote Geschoss. Der Lenker aggressiv im Rennrad-Modus, die silbernen Klickpedale funkeln mich an. Vor meinem inneren Auge habe ich mich längst dabei ausgelacht, wie ich an jeder roten Ampel umfalle, weil ich nicht rechtzeitig aus meinen Pedalen ausklicken würde. Deshalb übe ich erst mal ein paar Minuten lang an die Wand gelehnt, wie man schnell ein- und ausklickt. Sobald ich mich sicher fühle, geht’s zur ersten Ausfahrt. Ich zwänge mich in die hautenge Bib-Shorts (Radlerhose mit Trägern), die mit ihrem gepolsterten Arsch aussieht, als würde ich Windeln wieder salonfähig machen wollen, ziehe den Reißverschluss des Jerseys zu, Helm auf, Schuhe an, einklicken, los geht’s.
Ich taste mich langsam ran, habe Berührungsängste mit den Münchner Rennrad-Clans, die sich wie Bienenschwärme über die Straßen außerhalb der Stadt schieben.
„Aber sobald ich im Sattel sitze, freue ich mich – weil ich spüre, welche Kraft meine Beine haben, die ich sonst jeden Tag mit Kritik und Ablehnung überhäufe.“ -
Ich bin überrascht, wie gerne ich mich auf steile Hügel quäle, solange ich danach mit 60 Sachen wieder bergab pesen kann, und wie vollkommen egal mir alles rundherum ist. Ich brauche etwa drei Minuten, bis dieser Zustand eintritt: Hosenbund kneift? Egal. Helm verpasst mir einen Look wie Toad, dem kleinen Pilzkopf von Super Mario? Macht nix. Ungeöffneter Brief vom Finanzamt wartet auf meinem Schreibtisch? Darum kümmert sich mein Zukunfts-Ich. Für mich gibt es keine bessere Möglichkeit, mich aus dem Alltag zu beamen und meine Grenzen auszutesten als eine Runde mit dem Gravel Bike im Münchner Süden, mit Blick auf Bergseen und die Zugspitze.

Ich starte mit kleinen Runden, etwa 40 Kilometer, und steigere mich Woche für Woche: erst 50 Kilometer, dann 60, mittlerweile klappen 100 Kilometer mit mehreren 100 Höhenmetern. Die Touren plane ich mit der App
Komoot. Sie zeigt Profil, Distanz, Höhenmeter und Streckenhighlights an und ist kompatibel mit den meisten Navigationssystemen, die fürs Fahrrad gemacht sind (klappt aber auch easy direkt über die Smartphone-App). Auf
Strava checke ich, welche Routen meine Freund*innen fahren.
Durch das langsame Herantasten spüre ich schnell, was ich meinem Körper an Distanz und Höhenmetern zutrauen kann, wann ich essen und trinken muss, zu welchen Temperaturen ich mit kurzen Shorts oder langärmeliger Jacke ausfahre. Das ist für mich das Beste am Biken:
„Ich habe mir ein Körpergefühl antrainiert, das ich sehr, sehr lange nicht mehr hatte.“ -
Weder Joggen noch Wandern oder Yoga konnten mir ein vergleichbares Feeling geben.
Dadurch fallen mir auch Fortschritte viel schneller auf, die sich bei regelmäßigem Radeln recht schnell einstellen: Ich kann meine Pace gut regulieren und an meinen Puls anpassen und damit genau die Trainingsziele verfolgen, die ich erreichen will, ohne mich zu überfordern. Die Gelenke werden geschont (mein lädiertes Knie dankt) und der Kreislauf wird angekurbelt. Durch die Höhenmeter, die man in Richtung Alpen nicht umgehen kann, verschiebt sich meine Belastungsgrenze immer weiter nach hinten.
Was ich gerne vorher gewusst hätte:
Natürlich sind mir dämliche Fehler passiert. Zum Beispiel hätte ich gern vorher gewusst, dass Klickpedale mit Mountainbike-System für Newbies wie mich vielleicht einfacher sind, weil man mit den Schuhen viel leichter gehen kann und sie weniger verschleißanfällig sind als Rennrad-Schuhe. Außerdem:
„niemals vor einer längeren Ausfahrt im Intimbereich rasieren.“ -
Es sei denn, man hat Bock auf Rasierpickel der Extraklasse. Ich habe mich monatelang geweigert, auf dieses Level der Pseudo-Professionalität zu steigen, aber am besten fährt es sich ohne Schlüpfer. Hab’s dann einmal ausprobiert und möchte nie wieder zurück. Denn jede Naht ist eine potenzielle Druckstelle. Und wenn alle Nähte ihr Potenzial ausschöpfen, werden die Tage nach der Ausfahrt sehr, sehr unangenehm.
Wer längere Ausfahrten plant, sollte sich genau mit der Technik des Bikes vertraut machen und sichergehen, dass man unterwegs auf Probleme reagieren kann: Wie wird die Kette gewartet, die Räder aufgepumpt, der Schlauch gewechselt, wie klingt eine Schaltung, wenn sie optimal läuft?
Beim Graveln kann das Streckenprofil wild sein, deshalb lohnt sich ein kleines Multitool, das immer mitfahren sollte und kleine Wehwehchen wie lockere Schrauben, quietschende Ketten oder Ähnliches schnell richten kann. Und das Allerwichtigste: Essen! Bei kleinen Runden vielleicht zu vernachlässigen, je höher die Kilometerzahl, desto wichtiger. Bei Ausfahrten ab etwa 60 Kilometern stopfe ich meine kleine Oberrohrtasche mit Obstriegeln voll, im bayrischen Outback weiß man nie so genau, wo man sonntags Essen oder Getränke organisieren kann.
Immer dabei: zwei Flaschen Wasser, mehrere Obst- oder Energieriegel für mich und meine Mitfahrer*innen, eine dünne Jacke oder Weste, falls das Wetter zickig wird. Denn im Herbst bei strömendem Regen machen auch die letzten fünf Kilometer im kurzen Jersey keinen Spaß mehr.
Bikepacking: Was braucht man für längere Ausfahrten?
Meine nächste große Etappe steht an: Ich möchte gemeinsam mit einer Freundin mehrere Tage mit dem Bike Richtung Tirol radeln und Bikepacking Light machen. Light deshalb, weil mir die Nummer mit Zelt, Schlafsack und Gaskocher noch zu heftig ist. Stattdessen plane ich meine Route vorab und reserviere Zimmer – ich schätze eine ausgiebige Dusche nach 100 Kilometern auf dem Fahrrad. Ich plane Tagesetappen, die meinen Fähigkeiten entsprechen. Um ein besseres Gefühl dafür zu bekommen, teste ich erst an Wochenenden, wie viele Kilometer ich mehrere Tage in Folge schaffe, ohne den Spaß daran zu verlieren.
„Im Zweifel unterschätze ich mich lieber ein bisschen.“ -
Man weiß nie, welche unvorhersehbaren Herausforderungen auf einen warten.
Was packe ich ein? Am wichtigsten sind die richtigen Taschen: Die meisten nutzen eine große Satteltasche (liebevoll Arschrakete genannt), mit etwa zehn bis 15 Litern Stauraum, eine größere Lenkertasche für Persönliches wie Geldbeutel, Handy, Ladekabel. Die Oberrohrtasche nutze ich für Snacks und je nach Rahmengröße eine Rahmentasche.
Ein Glück, dass ich vor kurzem in ein YouTube-Rabbithole gefallen bin, das mir ganz genau erklärt hat, was ich für einen Trip von vier Tagen brauche: Zwei Jerseys, ein bis zwei Bib-Shorts, zwei Paar Bike-Socken, Wechselschläuche, Multitool, zwei Wasserflaschen, ein normales Outfit, mit dem ich mich im Zweifel in einem Restaurant nicht schäme, Unterwäsche und eine Jacke oder ein Hoodie, falls es kalt wird. Schuhe? Badelatschen oder Sneakers in der Satteltasche. Kosmetik? Zahnbürste, Cleanser und Sonnencreme, vielleicht Shampoo und Conditioner.
Meine Begleitung und ich teilen, was man teilen kann. Es wird minimalistisch. Für den Fall, dass ich doch mal bei roten Ampeln samt Fahrrad umkippen sollte, kommen Pflaster und Desinfektionsmittel mit. Einmal zur Probe gepackt sieht es ganz so aus, als wäre ich ready. Mein Krempel ist verstaut, unnötiger Ballast bleibt zuhause. Ob ich meine erste, lange Tour überstehe und meinen Körper richtig einschätze, werde ich vermutlich recht schnell merken. Die letzten Monate mit meinem knallroten Geschoss haben mir aber gezeigt:
„Ich kann mir vertrauen.“ -
Deutlich mehr, als ich dachte.
Mehr Inspiration für Gravel-Biker*innen:
Die Frauen, die online von ihren Bike-Anfängen, Fails und Erfolgen erzählen, haben mich am meisten motiviert, selbst damit anzufangen. Wer keine Begleitung hat, sollte sich davon nicht abschrecken lassen – in den meisten größeren Städten gibt es Gruppen, die regelmäßig gemeinsame Ausfahrten machen. Dort kann man schnell Kontakte knüpfen und sich zu Bikes, Ausstattung, Routen und Technik austauschen. Ich habe hier am meisten gelernt und gestaunt:
Vielleicht sehen wir uns ja bald im Sattel.
Alles Liebe