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Mutig sein
Beruflich neu anfangen trotz erfolgreicher Karriere? Svenja Altan wagt es mit einem Community-Business.
von Alexa von Heyden - 01.04.2022
Liebe Ohhh…Mhhh…Abonnent*innen, ich weiß, was ihr denkt: dass ihr jetzt hier eine mitreißende Geschichte lesen werdet von einer einst gestressten Karrierefrau, die den Sinn des Lebens an der Töpferscheibe wiederfand.
Das ist aber längst nicht die ganze Geschichte. Denn neben dem Mut, sich ab sofort auf ihre eigene Keramikkunst statt auf internationale PR- und Marketingkampagnen zu konzentrieren, etabliert Svenja Altan (42 Jahre) mit ihrer Geschäftspartnerin Verena Warnke (39 Jahre) ein visionäres Business, bei dem nicht die Kohle, sondern die Community im Fokus steht.
Wir sind hier: im dritten Hinterhof eines Backsteingebäudes im Kreuzberger Gräfekiez. Ich besuche meine Freundin Svenja, die hier zusammen mit ihrer Kollegin Verena eine Keramikwerkstatt eröffnet hat: Peace out Paradise, kurz POP, ist Berlins größte, für jeden zugängliche Töpferei.
Ich bin gespannt, denn ich weiß, dass Svenja seit einiger Zeit selbst töpfert. Aber ich dachte bislang, das wäre eher so zum Spaß. Jetzt hat Svenja Nägel mit Köpfen gemacht bzw. Tassen mit Glasur. Sie konzentriert sich auf ihre Kunst. Ihre Gründungsgeschichte ist inspirierend, weil sie zeigt:

„Ruhm und Geld sind nicht das, was an einem Unternehmen am meisten Spaß macht.“ -

Sondern gemeinsam groß zu denken und sich nachher immer noch zu mögen.
Eine große Holztür öffnet sich, ich stolpere beinahe über eine Palette mit Tonpaketen. Links an der Wand stehen gelbe Schließschränke, dahinter zwei große Brennöfen. Rechts fliegt eine Stahltür auf, Svenja steht im Türrahmen und begrüßt mich auf ihre Art laut und herzlich. Ich mache einen Schritt hoch in die Werkstatt und dann ist es da, dieses Gefühl: vor der Tür die Großstadt, hier drinnen Frieden wie in einem Zen-Kloster. Das Sonnenlicht fällt durch die Oberfenster, es riecht nach nasser Erde.
Zwölf Drehscheiben stehen auf dem Boden, an den Wänden hängen Holzregale mit frisch geformten Tontassen, Schalen oder Krügen. Svenjas Entwürfe erkenne ich sofort: eine Räucherstäbchen-Ablage in Form einer Buddha-Hand, die kleinen, bunten „Ghost“-Glücksbringer, Schalen mit Sprenkeln und amphorenähnliche Vasen, mit den für Svenjas Stil typischen Neonpastellfarben unperfekt bekleckst.
Kennengelernt habe ich Svenja vor zehn Jahren auf einer Chanel-Party. Wir unterhielten uns ehrlich über unsere an Depressionen erkrankten Eltern, während alle anderen um uns die ikonischen Schwarz-Weiß-Fotos von Karl Lagerfeld feierten. Auf platonische Art und Weise hat es damals bei mir gefunkt und ich habe deswegen stets verfolgt, was Svenja macht.
Vielmehr habe ich gestaunt, wie sie sich immer neu erfunden hat. In Berlin war sie Mitbegründerin einer der größten PR-Agenturen der Stadt. Dann wanderte die gebürtige Lübeckerin mit Mann und Mops nach Kalifornien aus, baute für ihre Agentur das Marketing- und Eventgeschäft in Los Angeles auf, sparte und investierte immer wieder in Immobilien – und zwar lange bevor das Thema passives Einkommen von den deutschen Medien aufgenommen wurde.

„Clever, denn Svenjas Inventionen von damals sind die Grundlagen für ihre Freiheiten heute.“ -

Das Leben in Kalifornien war spannend, aber in einer von Egos, Erfolg und Geld getriebenen Stadt wie L.A., ohne den Rückhalt von Familie und Freund*innen, bedeutet es angesichts der immer weiter steigenden Lebenshaltungskosten, permanent ein hohes Stresslevel auszuhalten. Svenja sagt nicht Stress, sondern „Hustle“. Mit bald zwei kleinen Kindern auf dem Arm war es selbst für ein Energiekraftwerk wie sie zu viel Hustle.
Was ihr half, war die entspannende Wirkung des Töpferns. Die Gehirnkirmes lahmzulegen war so einfach: In L.A. gab es überall Community Pottery Spaces mit professionellem Set-up, die so unkompliziert wie ein Yogastudio funktionierten und eine angenehme Atmosphäre zum Abhängen und Austausch boten.
Immer mehr Menschen sprachen Svenja auf ihre Keramiksachen an, wollten sie kaufen oder für Fotoproduktionen ausleihen. So wuchs in Svenjas Kopf die nächste Vision.
Nach sieben Jahren verließ sie Amerika und kehrte zu Coronazeiten nach Berlin zurück. Nach der Elternzeit trennte sie sich sowohl von ihrer aktiven Agenturtätigkeit als auch von ihrem Mann. Es war Zeit, die Fühler wieder neu auszustrecken. Und Svenja machte das so: Sie erzählte allen Freund*innen von ihren Plänen, auch wenn es noch ungelegte Eier waren.
„Ich halte mit meinen Ideen nie hinter dem Berg. Das ist meiner Erfahrung nach der größte Fehler von Gründer*innen: allein über eine Idee brüten, weil man Angst hat, dass jemand anderes sie klaut. Ich bin fürs Teilen. Denn dann kommen Menschen auf dich zu, die dir wirklich helfen wollen.“
Einer der Menschen war Verena Warnke, eine lange vertraute Kollegin, die nicht nur wie Svenja ein Faible für Excel-Tabellen hat, sondern auch hervorragend darin ist, neue Dinge anzuschieben. Auch sie nutzte die Coronapandemie, um sich als freie Projektmanagerin aus der Eventbranche zu verabschieden und herauszufinden, was ihr nicht nur Spaß macht, sondern auch guttut. Eine langfristige Anstellung kam für sie zum Beispiel gar nicht mehr infrage.

„Die Frauen trafen sich an einem Punkt in ihrem Leben, an dem der Sinn ihrer Tätigkeit und die Achtsamkeit gegenüber der eigenen Gesundheit und Umwelt nicht mehr nur leere Worthülsen sein konnten.“ -

Für Verena war total klar: „Heutzutage sollte kein Unternehmen entstehen, nur um Spaß zu machen oder um schöne Dinge herzustellen. Es hat eine soziale, ökonomische Verantwortung. Der Fokus sollte also sein: Was kann man für das Unternehmen tun und die Menschen, die daran teilhaben?“ – „Wir waren voll auf einer Linie“, so Svenja.
Sie vereinbarten für sie unverhandelbare Bedingungen, welche die Grundlage ihrer Zusammenarbeit bilden sollten. „Vor allem wissen wir, was wir nicht mehr wollen.“ So sehen sich die beiden zum Beispiel eher als Initiatorinnen denn als Geschäftsführerinnen. „Wir wissen, dass wir besonders gut im Starten sind, aber dann kommen viele andere wichtige Menschen hinzu, die zum Gelingen und Weiterentwickeln eines Unternehmens beitragen“, sagt Svenja.
Anders als bei vielen anderen Start-ups steht bei ihrer Gründung nicht der jährliche Millionenumsatz und anschließende Börsengang im Fokus, während das Unternehmen in Wahrheit auf dem Rücken unbezahlter Praktikant*innen aufgebaut wird. Sondern dieser Gedanke: Wie gerne würde man für eine Firma arbeiten, wenn es nicht als Mittel zum Zweck für den Wohlstand einer einzelnen Person verstanden wird, sondern die Profite echt nachhaltigem Unternehmertum dienen?
Finanzcrack Verena setzte sich deswegen mit einem neuen Gesetzesvorschlag auseinander: Eine Gesellschaft mit gebundenem Vermögen (GmbH-gebV) gehört keinem Oberboss, sondern sich selbst. Nachdem alle Gehälter gezahlt sind, werden die überschüssigen Einnahmen in das Unternehmen reinvestiert. Das Ergebnis: Die Motivation und Identifikation der Mitarbeiter*innen bleiben erhalten, während sich die Gesellschafter auf die Weiterentwicklung der Unternehmensziele konzentrieren – und nicht das Füllen der eigenen Taschen.
„Dadurch denken wir bei POP automatisch anders. Unser Antrieb ist nicht etwas zu verkaufen, sondern: Wie kann man Community basiert gründen und führen?“, erklärt Verena. „Wir wollen dem Geld die Macht nehmen und überlegen: Wollen unsere Mitarbeiter*innen wirklich mehr Gehalt haben? Oder fühlen sie sich mit einem Mitbestimmungsrecht oder Weiterbildung wohler?“ So kann POP genau das bleiben, als was es gedacht ist: ein Ort, der guttut. Schneller als die beiden gedacht hatten, fanden sie die perfekte Location für die Töpferei über ihr Netzwerk bzw. einen Newsletter, den ein Freund abonniert hatte.
In diesem Moment packten sie ihre jahrelange Erfahrung aus der PR- und Marketingbranche zusammen und legten eine sensationelle Bewerbung auf den Tisch. Den Vermieter der ehemaligen Steinmetz-Werkstatt überzeugten sie mit einer Knallerpräsentation, inklusive Moodboards und Budget-Planung. „Wir wissen ja, was die Leute sehen wollen“, lacht Svenja. Und siehe da: Die Zusage ließ nicht lange auf sich warten.

„Schlauer Schachzug: Die ersten drei Monate handelten Svenja und Verena Mietfreiheit aus.“ -

In dieser Zeit renovierten sie die Werkstatt, erneuerten die Böden, strichen die Wände weiß und die Stahlrahmen der Glaswände in Sonnengelb. Das Startkapital zahlten Svenja und Verena aus eigener Tasche und liehen sich kurzfristig von Freund*innen oder Familie etwas. Für alle weiteren Schritte wurde ein Kredit bei einer nachhaltigen Ökobank beantragt. „Mit um die 40 haben wir natürlich einen anderen finanziellen Hintergrund als Gründer*innen, die gerade von der Uni kommen“, erklärt Svenja.
Aber gerade, wenn es um das eigene Geld geht, sollte man vorsichtig sein – oder? „Wir haben keine Angst vor Investitionen“, sagen die beiden. In ihrer Agenturzeit haben sie Budgets in sechsstelliger Zahl verwaltet. „Wir kommen aus dieser riesigen Maschinerie, haben Angst vor nichts und denken immer gleich groß“, erzählt Verena. Was bedeutet das für sie? „Ich mache ein Keramikstudio auf, obwohl ich nicht töpfern kann. Das verstehen viele überhaupt nicht. Aber genau davon brauchen wir viel mehr! Bitte irritiert mehr und vergesst die gute alte Karriereleiter!“
Natürlich gab es kritische Stimmen, die Verenas Engagement und Svenjas Selbstverständnis als Künstlerin hinterfragten. „Man ist nie genug: als Frau, als Mutter, als Künstlerin. Das gilt es, aufzubrechen und zu sagen: ‚Hey, wenn ich will, dann kann ich alles sein!‘“, sagt Svenja und macht es vor:
Im März 2021 öffnete POP seine Türen und wird von der Community begeistert aufgenommen. Inzwischen finden bereits wöchentlich mehrere Töpferklassen (ab 65 Euro) statt, vom Schnupperkurs bis zum gediegenen Junggesell*innenabschied ist alles möglich. Fortgeschrittene oder Keramikkünstler*innen bewerben sich um eine Mitgliedschaft (ab 100 Euro) und können jeden Tag kommen, werden dank der großen Trennwände aus Glas in ihrer Arbeit aber nicht gestört. Das POP-Team besteht inzwischen aus acht Leuten: zwei Brennmeistern, die für die Brennöfen zuständig sind und das Studio weiter einrichten, sowie freien Töpferlehrer*innen. In einem Shop sollen in Zukunft die Keramikkunstwerke von Svenja und den anderen Künstler*innen verkauft werden.
Ihr Label heißt Svenja Phönix Altan, wie der mystische Vogel, der aus seiner Asche immer wieder neu aufersteht. Wenn ich eine handgeformte Tasse von ihr in der Hand halte, dann ist dieser Name eine Erinnerung an mich selbst: Ich kann jeden Tag das sein, was ich will. Und morgen etwas ganz anderes.

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