Elternsein & Geburt
Werden unsere Kinder Spießer*innen?
Es gibt einen neuen Antik-Techniktrend bei Teenagern, der uns Erwachsenen auch guttun würde. Ninia hat sich direkt ein Klapphandy bestellt.
von Ninia „LaGrande“ Binias - 01.03.2023
Die Audiodatei gibt es hier als Download
   
„Mama. Handy weg. Jetzt ist Essenszeit und keine Handyzeit“, bestimmt mein sechsjähriger Sohn, als er sich an den Küchentisch setzt. Er hat recht. Ich weiß das so genau, weil ich die Regel eingeführt habe, an die ich mich selbst am schlechtesten halte. Am Tisch wird nicht aufs Handy geschaut. Warum es diese Regel überhaupt gibt? Ganz sicher nicht, weil mein Kind ein eigenes Gerät besäße und viele Businesscalls führt, während wir stumm unser Gemüse essen. Sondern weil mein Mann und ich uns dabei erwischt haben, uns auch beim Essen immer wieder ablenken zu lassen, weil wir „nur mal schnell die Likes checken“ oder „kurz eine Mail“ beantworten müssen. Und weil wir – eigentlich – diese Art der Ablenkung nicht vorleben wollen. Also Essenszeit und keine Handyzeit!
Ein paar Teenager in New York sind da schon wesentlich weiter als wir an unserem Küchentisch. Die Gruppe nennt sich selbst Luddite Teens, also „Technikverweigerer“, und sie sind genau das. Sie verzichten auf das Smartphone und besitzen Oldschool-Klapphandys, die sie mit Stickern und Nagellack verziert haben – so wie ich früher meine Kladden in der Schule. Die New York Times beschreibt sie in einer großen Reportage, die mich sehr fasziniert hat. Und mich zu der Frage geführt hat:

„Werden unsere Kinder medienverweigernde Spießer*innen?“ -

Die Luddite Teens treffen sich einmal die Woche an der lokalen Bücherei. Wer kommt, kommt. Es gibt keine gemeinsame WhatsApp-Gruppe, in der man sich austauschen kann, wer gerade wo und wie viel Verspätung hat. Keine kurzfristigen Absagen oder Ausreden. Alles wie früher. Ein Früher, in dem die Teenager, die sich hier treffen, noch gar nicht auf der Welt waren. Sie gehen in den anliegenden Park, schieben Baumstämme zusammen und sitzen dann dort. Für Stunden. Sie unterhalten sich, malen, machen Musik – sie sind die verträumten Hippies, während ihre Mitschüler*innen laut Statistik sechs bis acht Stunden pro Tag am Smartphone verbringen. Und sie lesen. Selbstverständlich Dostojewksi und Hunter S. Thompson, ausgeliehen aus der Bücherei. Keine E-Books. Viele von ihnen haben „Into the Wild“ gelesen, die wahre Geschichte über den Aussteiger Christopher McCandless. Der übrigens am Ende in der Wildnis, in die er geflohen ist, stirbt. So weit wollen die Teens dann nicht gehen. Aber McCandless habe „Real Life“ erlebt und eben das seien Social Media und Smartphones nicht.
In der Reportage sagt eine der Jugendlichen, seitdem sie das Smartphone weggepackt habe, habe sie das Gefühl, ihr Gehirn würde sich entfalten. Die ersten Tage wäre ihr wahnsinnig langweilig gewesen, aber dann sei sie auf einmal kreativer geworden. Ihre Welt sei jetzt eine größere. Ohne dass sie dabei ständig von anderen online beurteilt werden würde oder süchtig danach wäre, für ihr Online-Ich Likes zu sammeln. Und da hat sie mich. Da hat sie mich, weil das etwas ist, was seit Monaten an mir knabbert.
Denn mein Smartphone ist quasi mit meiner Hand zusammengewachsen, anders kann man es nicht ausdrücken. Ich bin immer online. Und ich spüre den Druck, posten zu müssen. Dieses kleine, bunte Rad um mein Insta-Profilbild lebendig zu halten. Content, Content, Content, alles für den Algorithmus. Wirklich für den Algorithmus – oder vielleicht eher alles für mein Ego? Ab und an komme ich auf den Trip, Plattformen wie Instagram fürs Wochenende vom Handy zu schmeißen und danach schnell wieder zu installieren, weil ich mir einrede, es auch beruflich zu brauchen. Aber selbst in den zwei Tagen findet mein Daumen problemlos die Stelle auf dem Bildschirm, auf der sich eigentlich die App befindet. Dabei verdiene ich mein Geld vor allem damit, kreativ zu sein. Und eben nicht damit, bei Instagram durch Storys zu klicken oder gefilterte Selfies zu posten.

„Und um kreativ zu sein, brauche ich genau das, was die Teens aus New York jetzt auch haben: Langeweile.“ -

Wann hatte ich die eigentlich das letzte Mal? So richtig? Ich kann mich kaum erinnern, weil jeder Weg dahin von mir schnell mit Musik, Videos, Podcasts und Instagram überlagert wird.
Die meisten Arbeitnehmer*innen in Deutschland haben ebenfalls keine Langeweile. Wenn sie einen Bürojob haben, reagieren sie laut einer Statistik innerhalb von vierzig Sekunden auf eine Mail. Vierzig SEKUNDEN. Die Mail kommt rein, wir unterbrechen, was wir gerade tun, beantworten die Mail und wenden uns wieder unserer Aufgabe zu. Die Mail kommt rein, wir unterbrechen ... ihr erkennt ein Schema? Wir sind gar nicht mehr in der Lage, uns längerfristig auf eine Aufgabe, auf einen Text oder ein Projekt zu konzentrieren, weil wir ständig unterbrochen werden. Es gibt Tools, die uns das konzentrierte Arbeiten ermöglichen sollen, sagt ihr jetzt? Richtig. Aber ist es nicht kurios, dass wir neben all den Tools zum Arbeiten auch noch Tools brauchen, die uns das Arbeiten ermöglichen, weil wir sonst von den vielen Tools zum Arbeiten abgelenkt werden? Wahhhh!
Gut, angenommen ich stelle alles aus. Flugmodus für diese Kolumne hier. Dann habe ich nach kurzer Zeit die freundliche Nachfrage, ob denn die Mail von gestern angekommen sei. Grüße von einer, die zuletzt morgens um 8.30 Uhr nach ihrer Meinung zu einem Entwurf gefragt wurde, der am Abend vorher um 23.30 Uhr verschickt wurde. Das ist ein Zeitraum, in dem selbst ich nichts mehr aktualisiere. Dieses Wechseln zwischen einzelnen Fenstern am Laptop, also das ständige Drücken von Alt/Tab, kann sogar zu Burnout-Symptomen führen. Das sagt zumindest eine Studie, die im Harvard Business Review veröffentlicht wurde. Sie fand heraus, dass Menschen bis zu 1.200 Mal am Tag zwischen Apps wechseln. Und jedes verdammte Mal muss sich unser Gehirn neu orientieren. Dass es dann irgendwann streikt, ist doch wirklich kein Wunder.

„Vielleicht ist es also keine schlechte Idee, zwischendurch ein Buch und die Ukulele einzupacken, um sich damit in den Park zu setzen und die Bäume anzustarren?“ -

Denn dass mit Social Media und sehr kurzen, snackbaren Artikeln, Posts und Reels unsere Konzentrationsfähigkeit für längere Aufgaben schwindet, ist keine neue Erkenntnis.
Die Luddite Teens wurden letztes Jahr gegründet von Logan Lane, einer Highschool-Schülerin in Brooklyn. Benannt ist der Club nach einem gewissen Ned Ludd. Den Mann gab es wirklich und er soll 1779 in Leicester, als ihm vom Arbeitgeber Faulheit unterstellt wurde, im Zorn mit einem Hammer zwei mechanische Strickmaschinen zertrümmert haben. Ich fühle ihn sehr, diese Dinger waren damals ein Symbol für die technische Revolution. Und seitdem muss Ned Ludd herhalten, wenn mal wieder jemand in England eine Strickmaschine sabotiert: „Ned Ludd did it.“ „Luddism“ nennt man das spaßeshalber. Fragt mich nicht, wie oft das passiert ist, aber es scheint ein Trend gewesen zu sein.
Club-Gründerin Logan begann während des ersten Lockdowns ihren Onlinekonsum zu hinterfragen, der New York Times erzählt sie, sie konnte ein Foto, wenn es gut war, nicht mehr nicht posten. Ihre Onlinepersönlichkeit sei eine andere geworden als ihre echte Persönlichkeit. Und dann legte sie ihr Smartphone in eine Box. Sie lieh sich Bücher aus der Bibliothek, stromerte herum, wachte pünktlich auf, weil sie nicht mehr bis in die Nacht wach lag und scrollte. Dann traf sie ein Mädchen mit Klapphandy und sie tauschten sich über ihre Erfahrungen aus. Und so entstand der Luddite Club. Für den Logan in ihrer Schule bisher immerhin 25 andere begeistern konnte. Und obwohl sie eben nichts darüber posten (können), erzählt man sich von Schule zu Schule über die Luddisten.
Die New Yorker Teens zerstören ihre Smartphones nicht, aber packen sie zumindest ganz weit hinten in eine Schublade. Und damit sind sie nicht allein. Sängerin Camila Cabello postete kürzlich ein Foto von sich mit Klapphandy und schrieb dazu: „Ich bin im Team der Klapphandy-Revolution.“ Und die Studentin Sammy Palazzo sammelte mehr als 14 Millionen Views mit einem TikTok, in dem sie erklärt, sie nehme zu Feiern nur noch ihr Klapphandy mit. Denn: „Jedes Problem, das uns zum Weinen bringt oder zu einer schlechten Zeit führt, hängt mit dem Smartphone zusammen.“ Wobei ich mich an dieser Stelle frage, mit welchen Geräten die beiden Ladys ihre Posts gemacht haben, mit denen sie dann doch wieder Likes und Views kriegen. Aber vielleicht ist das auch egal. Es geht ihnen, genau wie den Luddite Teens nicht darum, das Smartphone oder Social Media zu verteufeln, sondern nur noch bewusst einzusetzen und zu konsumieren.

„Ist das jetzt wirklich spießig? Oder nicht vielmehr ziemlich smart und gesundheitsbewusst?“ -

Denn dem eigenen Gehirn und der eigenen Kreativität mal wieder etwas mehr Raum zu geben, sich nicht mehr von der Beurteilung und den Kommentaren anderer abhängig zu machen und sich beim Feiern aufs Tanzen und auf Freund*innen zu besinnen, ist für die Psyche das Beste, was ihr passieren kann. Ich erinnere mich an eine Szene aus „How I met your mother“, in der der Freundeskreis in der Bar sitzt und feststellt, dass man nicht mehr miteinander rätseln könne, weil sowieso direkt jemand das Telefon aus der Tasche holt und Google nach der Lösung fragt. Und dann schweigen sich alle an.
Während Social Media also für mich eine neue Welt eröffnet hat, die ich mir so vorher nicht ausmalen konnte, ist es für diejenigen, die nichts anderes kennen, ein dauerhafter Druck, dort performen zu müssen. Weil sie nicht „ohne“ aufgewachsen sind.
Mit der Bewegung, nur noch das Klapphandy zu nutzen, erscheinen auch andere, vermeintlich vergessene Accessoires auf der Bildfläche. Denn wer kein Smartphone dabeihat, kann auch keine Fotos machen und hat stattdessen die olle Digitalkamera der Eltern oder Großeltern in der Tasche. #digitalcamera und #newaesthetics und schon haben wir einen neuen Retrotrend gebastelt. Und ich muss dabei ein bisschen lachen, weil ich in meiner Teeniezeit nichts anderes gemacht habe. Nur dass es bei mir die analoge Fotografie war, die wieder hip wurde. Alles wiederholt sich irgendwann.

„Wer von der Idee, das Smartphone daheim zu lassen, gar nicht unbedingt begeistert ist, sind übrigens die Eltern der Luddite Teens.“ -

Hatten sie sich doch gerade erst daran gewöhnt, dass es mit den Smartphones für die Kids umso einfacher ist, zu checken, wo sie sich gerade befinden, was sie machen und ob sie sich an alle Regeln halten. Aber mit Klapphandy kann man zumindest noch telefonieren. Und das machen die Teenager lieber, als sich Nachrichten zu schreiben. Ich muss das noch mal wiederholen, weil ich es so unglaublich finde: Sie telefonieren lieber, als sich Nachrichten zu schreiben. Ich bin diejenige, die andere bittet, doch mal die unbekannte Nummer zurückzurufen, weil ich selbst nicht drangehen möchte, und Teenies, die meine Kinder sein könnten, telefonieren lieber. Auch eine Art der Rebellion.
Um ehrlich zu sein, habe ich bei der ersten Lektüre ein bisschen geschmunzelt. Teenager, die sich die Haare flechten, in Hefte malen und sich über die Literatur der Beat Generation unterhalten: süß. Been there, done that. Aber ich been auch there, weil ich damals keine andere Wahl hatte. Meine Generation ist noch zur Bücherei gegangen, weil es die 24-Stunden-Ablenkung auf Instagram und Co. noch gar nicht gab. Auch wenn sich dieses Telefonieren bei mir nicht durchsetzen wird – wir können von den Teens viel lernen. Je mehr ich mich mit ihren Grundsätzen und vor allem den Auswirkungen ihres Verzichts beschäftigt habe, umso spannender finde ich die Luddite Teens. Denn ich würde mir vermutlich lieber eine Glatze rasieren, als von jetzt auf gleich auf ein Klapphandy umzusteigen. Auf der anderen Seite klingt die Aussicht danach, nicht mehr ständig und überall erreichbar zu sein und nicht andauernd auf diesem kleinen Bildschirm rumzutippen, sehr verlockend für mich. Wenn die Kids in ihren jungen Jahren schon verstanden haben, wie schädlich Social Media neben all seinen Vorteilen auch sein kann und dass Abstand oder Pausen davon dringend nötig sein können, dann haben sie in jedem Fall eine mentale Stärke, mit der ich nicht mithalten kann. Und das hat sehr wenig mit Spießertum zu tun. Denn spießig wäre, all diese technischen Werkzeuge und Plattformen grundsätzlich zu verteufeln. Sie aber gezielt zu nutzen und konsequent zu verzichten, wenn ich merke, sie tun mir nicht gut, ist schlau. Nichts mehr als das.
Ich mache mich jetzt auf die Suche nach einer schnieken Box, in die mein Smartphone dann zumindest nächstes Wochenende wandern wird. Vorher muss ich aber noch alle erreichen, um ihnen mitzuteilen, dass ich dann nicht mehr erreichbar bin. Und ein Posting auf Insta machen. Revolution Klapphandy. Und dann warte ich wieder auf Likes und Kommentare, die ich erst anschauen kann, wenn mein Smartphone am Montag wieder aus der Kiste raus darf. Diesen Stress versuche ich dann mit der hoffentlich entstehenden Langeweile und Kreativität zu kompensieren. Und zwischendurch zerstöre ich noch eine Strickmaschine. Oder so. Vielleicht telefoniere ich sogar mal wieder. Na ja, ich muss es beim ersten Versuch ja nicht gleich übertreiben.
Eure Luddite Mom

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