Die beschissenste Frage der letzten Jahre ist für mich das „Wie geht es dir?“ von Freund*innen gewesen. Kombiniert mit einem zögerlichen, tief gedimmten, achtsamen Coaching-Timbre. Wie soll es einem schon gehen, wenn der Lieblingsmann, der mit der Liebe und Treue bis in den Tod, Alzheimer hat? Man selbst, Anfang 50, Wechseljahre, 50 Wochenstunden kloppen und nebenbei darauf achten muss, dass die drei Teenager nicht komplett durch die Pubertät galoppieren?
Noch schlimmer als die Fragen (denn die kann ich von der Motivlage her verstehen) sind meine Antworten, denn die kann fast niemand verstehen. „Gut“ ist so eine unverständliche Antwort. „Wir kommen durch“ auch. Am allerschlimmsten ist aber: „Es könnte schlimmer sein“. „Du hast beim lieben Gott damals auch zweimal um Koketterie gebettelt, oder?“, erzürnte sich einmal eine Nachbarin, „man kann dir gar nicht mehr erzählen, dass einen die Kinder wahnsinnig machen, man schon wieder ein Knöllchen hat oder der eine Stiftzahn leider schon wieder implantiert werden muss – wenn alles, wie du dein Schicksal kommentierst, ein lapidares ‚Es könnte schlimmer sein‘ ist.“
Aber liebe Frau Nachbarin, es ist so. Natürlich hätte ich mir auch gewünscht, dass mein Mann länger lebt, er ist nämlich zu allem Unheil auch noch jüngst verstorben, aber ich habe in meinem Leben jemanden geliebt, der mich geliebt hat. Wahnsinn, oder? Natürlich hätte ich mir gewünscht, dass meine Kinder in der Pubertät nur die Sorge hätten: „Auf welche Party gehen wir heute?“, aber
„sie lernen nun, dass der Tod des eigenen Vaters überwindbar ist, auch wenn wir das immer verdrängen.“ -
Natürlich fände ich 30 Wochenstunden auch fein, aber nun habe ich mich derartig aufexcellentiert, dass ich wirklich, wirklich gut geworden bin in dem, was ich mache. Wie das?
Ich berate seit zehn Jahren Frauen und suche ihnen einen neuen Job. Wir sitzen zusammen, reden einen Tag lang und am Ende haben wir gemeinsam eine Lösung gefunden, die machbar und dennoch Glitter hat, die die Rentenvorsorge ebenso berücksichtigt wie das kleine Langweiligkeitsgefühl, das uns oft zwischen 40 und 50 beschleicht, weil man beruflich eigentlich alles schon irgendwann einmal gesehen hat.
2.000 Frauen haben durch mich bereits eine neue Idee erhalten. Das ist ’ne Menge Holz. Und wodurch hat jetzt der Tod von Matthias meine Arbeit besser gemacht? Wird man dadurch nicht eher egozentrischer, besonnen auf das Innerliche, Wichtige, Eigene? Nein. Komischerweise nicht.
Ich kann heute unerbittlicher in einen Fremden einsteigen, als wäre es ein verlassenes Haus. Der Besitzer des Hauses steht neben mir und sagt: „Doch, du darfst hier rein, aber pass auf, dass du nicht über den Küchenstuhl stolperst …“ Manchmal müssen Fremde in das eigene Haus einsteigen, um zu erkunden, wie man wohnt.
Was heißt das für meine Beratungen? Wenn jemand „purpose“ sagt, kann er auch „Pause“ meinen. Durch den ungeheuerlichen Tabubruch, den der Tod in unsere Familie gerissen hat, traue ich mich jetzt nach Unsittlichkeit, dem Eigentlichen und Unerhörten zu fragen.
Denn
„gerade das Unerhörte ist es, was uns die Ideen schenkt.“ -
Wir alle leben nur gerade in einer Zeit, in der es nicht leicht ist, unerhört zu sein. Wie kriegt man jemanden dazu, von seinem wirklich Innersten zu erzählen? Indem man nicht fragt: „Wie geht es dir?“, sondern eher: „Wie geht es dir jetzt?“ und „Warum geht es dir so?“ Indem man sich auch nackig macht, wenn man solches von seinem*seiner Gesprächspartner*in auch wünscht. Ich erzähle hier von meinem Mann und würde auch jederzeit von den wirklich räudigen Stunden zwischen Pflege, Pubertät und Geldverdienen erzählen, das war kein Spaß. Aber neben Pflegegeldantrag, Tablettengabe und Badewannen voll mit Tränen kam auch ein wirklich gewaltiger Kama-Ausgleich: Es gibt heute wenig Sachen, vor denen ich mich fürchte. Einfach, weil wir das Fürchterlichste schon überstanden haben.
Darmspiegelung, Steuerprüfung, Schulverweigerung – ach, pfft. Wir nehmen demnächst eine ukrainische Geflüchtete auf, nicht weil wir gute Menschen sind, sondern weil wir Wohnraum über haben und Leidtragende Leidtragende ertragen können. Weil wir beide das ganz Simple in den letzten Jahren gelernt haben, das nämlich mit dem Leben und dem Ponyhof. Und weil diese Lektion tatsächlich ein Geschenk sein kann, nicht in diesem Glückskeksmist mit Krise und Chance, sondern weil es wirklich frei und unabhängig machen kann. Danach habe ich mich lange gesehnt. Nur habe ich für diesen Preis etwas wirklich Wertvolles opfern müssen: die Liebe meines Lebens.
Katrin Wilkens berät Frauen nach der Babypause. Mehr unter: www.i-do-hamburg.de.