Finanzen & Sparen
Heute sparen, morgen haben:
Rente mit 45? Kein Problem, behaupten sogenannte Frugalisten. Aber: Wollen wir das überhaupt?
von Sina Teigelkötter - 01.11.2019
Hier in der Nähe gibt es einen alten Friedhof. Lange schon wurde dort niemand mehr begraben. Zwischen den verwitterten, bemoosten und efeuumrankten Grabsteinen flitzen Kinder, Jogger und Eichhörnchen um die Wette. Einer dieser Grabsteine hat mir immer besonders gefallen: Johann Beck, Privatier, steht da drauf. Privatier. Eine ziemlich coole Vorstellung: Nicht (mehr) darauf angewiesen sein zu arbeiten. Sich aus eigener Kraft finanzieren. Nur noch das tun, was Spaß und Sinn macht.
Und tatsächlich ist das 19. Jahrhundert (da war das Privatier-Sein schwer in Mode) gerade wieder erstaunlich präsent. Angehende Privatiers heißen heute aber nicht mehr Privatiers, sondern Frugalisten. So nennen sich Menschen, die einen möglichst großen Teil ihres Einkommens sparen, um möglichst bald finanziell unabhängig leben zu können. Der Trend kommt, na klar,  aus den USA und entstand nach der großen Wirtschaftskrise. Rente mit 40? Kein Problem, nur eine Herausforderung, behaupten viele Frugalisten, legen in Foren wie frugalisten.de schonungslos ihre Finanzen offen, teilen Erfahrungen und Tipps.
Da kann man dann lesen, wie man günstiger kocht (Thaicurry für 50 Cent!), trinkt (nie mehr Coffee to go!), isst (auch am besten zuhause), wohnt (Stichwort tiny house) oder reist (mit dem Rad natürlich, Greta freut sich). Vieles von dem klingt sehr vernünftig. Furchtbar vernünftig. Ein bisschen spaßbefreit, für meinen Geschmack.  Außerdem: Für einen Mittzwanzigjährigen wie Frugalist Max mag es ja ok sein, sich mit Freundin Noreen 20 Quadratmeter zu teilen, für mich, 41, meinen Mann und meine zwei Kinder wäre das die Hölle. Klar würde ich meine unverschämt hohe Miete (Münchner Innenstadt!) gern minimieren, um meine monatliche „Sparquote“ (das A und O, sagt der Frugalist) auf ideale 70 Prozent meines Einkommens zu erhöhen, aber mein Vermieter hat leider was dagegen. Und mit Thaicurry muss ich meinen beiden Kleinen gar nicht erst kommen.
Eher skeptisch und leicht grundfrustriert blättere ich also durch das druckfrische Buch „Rente mit 40“ (Econ, 304 Seiten, gutangelegte 14,99 Euro), das mir mein bisheriges Scheitern an den Sparplänen und Aktienmärkten dieser Welt demütigend vor Augen führen wird, so glaube ich. Aber, Überraschung nach den ersten paar Seiten: Stimmt gar nicht.

„Frugalismus ist nicht nur etwas für junge Singles, die bereit sind, super studentisch zu leben.“ -

Jeder kann jederzeit etwas ändern, sagt Autor Florian Wagner, 32. Seit vier Jahren ist er Frugalist. Seinen gutbezahlten Ingenieursjob kündigte er, weil er ihn nicht mehr glücklich machte, heute ist Florian selbständig und bloggt unter geldschnurrbart.de. Finanziell ausgesorgt hat er noch nicht, ist aber auf sehr direktem Weg dorthin. Er ist derjenige, der wissen muss, ob ich es noch erreichen kann, mein Ziel, Privatière zu werden.
Anruf bei ihm. Mal ehrlich, Florian, habe ich noch eine Chance, in meinem Alter? „Na klar“, beruhigt er mich, „weil es überhaupt nicht darum geht, bis Tag x etwas erreichen zu müssen,“ Sondern? „Darum, sich Schritt für Schritt mehr Unabhängigkeit aufzubauen“, stellt Florian klar. „Und jeder kann sich auf dieser Skala etwas aussuchen.“ Natürlich sei es sinnvoll, sich so früh wie möglich mit dem Thema Sparen zu beschäftigen, am besten, wenn das erste selbstverdiente Geld aufs Konto kommt. Aber zu spät? Gibt es nicht, sagt Florian. Eine ganz schlechte Ausrede also.
Ich suche ein Sparfeld für mich, 41, Ehefrau, Mutter, selbständig, Mieterin in was-kostet-die-Welt-München. „Couponschneiden und Angebote vergleichen ist es nicht“, sagt Florian, „du solltest deine Gewohnheiten hinterfragen.“ Oft sind es die unbewussten Nebenbei-Ausgaben im Alltag, die ungeahnt zu Buche schlagen: Hier das Teilchen beim Bäcker, da der Drink in der Bar. Ein riesiges, ungehobenes Sparpotential. Stimmt sicher, auch bei mir. Ich nehme mir vor, mittags seltener den Fertig-Couscous für 4 Euro 50 im Supermarkt zu kaufen und ihn mir am Abend vorher lieber selbst mealzuprepen. Schmeckt eh besser. Florian macht sich immer Sonntags einen Essensplan für die ganze Woche, so kauft er weniger unnötig und nebenher – und muss auch nichts wegwerfen. Sein Thaicurry werde ich auch mal nachkochen: Naturreis, Currypaste, Paprika, Karotten und Pinienkerne – 50 Cent pro Portion, tatsächlich. Ein kleiner Anfang, aber ein erster Schritt auf dem Weg in die große finanzielle Freiheit.
„Es sind immer Entscheidungen, die wir treffen“, sagt Florian: Brauche ich die 10 Quadratmeter mehr? Buche ich die dritte Pauschalreise im Jahr, um vor den Nachbarn gut dazustehen? Was bringt mir echte Lebensfreude? Unbequem zahlt sich oft aus, nicht nur finanziell, weil mich die Wandertour mit Freunden gleichzeitig auch glücklicher macht. Und meine Kinder? Brauchen Zeit und Zuwendung, nicht zwingend den Ausflug in den teuren Hüpfburg-Park am Wochenende, beschließe ich ungewohnt autoritär – und verabrede mich lieber mit einer Mutter-Freundin um die Ecke.
Aber jetzt will ich nackte Zahlen von Florian sehen.

„Wieviel muss ich auf der hohen Kante haben, um mich bald zur Ruhe setzen zu können?“ -

Zwei Millionen? Fünf? Viel weniger, sagt Florian. Etwa das 25-fache meiner Jahresausgaben. Er selbst hat sich schon einen Puffer von 140 000 Euro, sieben Jahresausgaben in seinem Fall, angespart, der ihn ruhig schlafen und gelassen Entscheidungen treffen lässt. Würde er heute aufhören zu arbeiten, könnte er 6,3 Jahre davon leben. Zur Rente mit 40 fehlen ihm noch 360 000 Euro. Viel, aber nicht unrealistisch, wenn man wie er clever investiert – vornehmlich in Aktien EFTs und P2P-Kredite. Da hat er mich natürlich kalt erwischt, mein Sparkonto ist immer noch mein größtes Geldgrab. Höchste Zeit, das endlich zu ändern.
Wenn ich jetzt loslege und Aktionärin werde, gleichzeitig meine Geldausgabe-Routinen (Tipps dazu findet ihr ganz unten) ändere und so meine Sparquote erhöhe, ist da plötzlich wieder Luft nach oben. Wieviel, das werde ich ab sofort ausprobieren (z.B. mit dem Bargeldtrick und dem Kaufnix-Monat von Florian, s.u.). Rente mit 50 wäre ein radikales Ruderumreißen, da müsste ich auch an die Fixkosten ran (Miete!). Wie gesagt, alles eine Entscheidung. Rente mit 60 scheint ein machbareres Ziel. Immerhin sieben Jahre früher als gesetzlich, leider 20 Jahre später als Florian... Der sagt jetzt aber überraschenderweise, dass ihm dieses konkrete Ziel, diese Zahl 40 im Laufe der Zeit immer weniger wichtiger geworden sei.
Dank seines Polsters kann er schon jetzt beruflich vor allem das machen, was ihm auch Spaß macht. So ein Polster will ich auch – und das Gefühl, das es mit sich bringt: Florian geht motiviert und mit Freude in die Woche, zumindest meistens, „und das habe ich heute schon geschafft“, sagt er. „Auf der Couch liegen will ich auch mit 40, als ‚Rentner‘ nicht“, sagt Florian. Gefällt dir überhaupt der Begriff Privatier, Florian? „Ja, sehr“, sagt er, „wenn Geld kein Thema mehr ist und ich mich nur noch für Dinge und Menschen einsetzen kann, die mir wichtig sind.“ Eine schöne Vorstellung, allerdings. Ich rufe die Excel-Tabelle „Vermögensaufbau“ auf. Und danach entwerfe ich meinen Grabstein.

Frugalist auf Probe? Diese zwei Tipps von Florian lassen sich jetzt sofort umsetzen:

Der Kauf-nix-Monat: Einen Monat lang auf jede Neuanschaffung verzichten (außer Lebensmittel und Zahnpasta natürlich). Sich bewusst fragen: Brauche ich das? Wieviel davon habe ich bereits? Kann ich auch ohne leben? Wie lange wird es mir Freude machen? Kann ich es selbst reparieren? Was mache ich damit, wenn ich es nicht mehr brauche? Ist es mir die Lebensenergie in Form von Geld wert? Kann ich es ausleihen? Kann ich es gebraucht kaufen? „Indem wir uns bewusster überlegen, welche Dinge wir in unser Leben lassen, gewinnen wir Macht zurück und werden nicht nur von Impulsen und Gewohnheiten geleitet“, sagt Florian.
Der Bargeldtrick:  
1. Monatliche Ausgaben für Essen/Trinken/Freizeit schätzen.
2. Im nächsten Monat diesen Schätzwert als Bargeld abheben.
3. Im kommenden Monat alle Ausgaben dieser Kategorie mit diesem Geld bezahlen.
4. Falls das Geld nicht reicht, auffüllen und notieren.
5. Im zweiten Monat alles wiederholen.
6. Nach dem dritten Monat hat man einen guten Überblick, einen realistischen Näherungsbetrag, was man tatsächlich ausgibt.

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