Elternsein & Geburt
Von wegen down
Als bei Wiebkes Tochter das Downsyndrom diagnostiziert wird, steht ihre Welt kopf. Doch dann lernt sie etwas sehr Wichtiges.
von Wiebke - 01.03.2023
Die Audiodatei gibt es hier als Download.
  
„Könntet ihr euch noch mal setzen?“ Als unsere Hebamme zwei Stunden nach der Geburt unserer Tochter diese Worte aussprach, wusste ich eigentlich, dass das nichts Gutes bedeuten konnte. Das letzte Mal hatte ich einen ähnlichen Satz vor zwölf Jahren beim Tod meiner Mutter gehört. Aber ich versuchte mich zu beruhigen, denn wir hatten ja eine schöne und schnelle Geburt ohne jegliche Komplikationen im Geburtshaus gehabt. Oder?
„Wir haben den Verdacht, dass eure Tochter eine Besonderheit hat, und würden euch deswegen gern ins Krankenhaus schicken“, folgte dann der Satz von meiner Hebamme. Uns war völlig unklar, was sie genau damit meinte, denn für uns war unsere Tochter doch perfekt. Uns war keine Besonderheit aufgefallen. Im weiteren Gespräch erklärte sie uns den Verdacht auf Trisomie 21, das Downsyndrom.
Uns wurde der Boden unter den Füßen weggerissen und gleichzeitig war ich fest davon überzeugt, dass sie sich irrte. Ich war gerade 26 Jahre alt geworden, wir haben die Nackenfalte in der Schwangerschaft messen lassen und auch sonst verliefen die letzten Monate unkompliziert. Nach dem Gespräch fuhren wir nicht, wie erst geplant, nach Hause, sondern in die Kinderklinik, in der unsere Tochter sofort vom Oberarzt untersucht wurde.
Schnell stellte sich heraus, dass sie vollkommen gesund war und keinen Herzfehler hatte, der beim Downsyndrom öfter auftreten kann. Nach der Untersuchung durften wir in das Familienzimmer auf der Station ziehen. Es war Silvester, normalerweise für mich immer ein schöner Anlass, um die vergangenen Monate zu reflektieren und um neue Pläne zu schmieden. In diesem Jahr war mir all das egal. Ich lag im Krankenhausbett, sah die Silvestergala im TV, während meine Gedanken um die Gesundheit meiner Tochter kreisten und die Tränen liefen.

„Schon im Krankenhaus merkten wir, dass wir für unser Kind kämpfen müssen.“ -

So setzten wir durch, dass ich unsere Tochter stillen konnte und sie nicht, wie im Krankenhaus empfohlen, durch eine Sonde ernährt wurde. Anschließend wurde ihr Blut für Genetiktests abgenommen und da man mit dem Ergebnis erst in einer Woche rechnen konnte, verließen wir das Krankenhaus auf eigenen Wunsch und fuhren nach Hause. Schließlich waren alle Werte gut und wir wollten im Familienleben ankommen und nicht länger als notwendig im Krankenhaus bleiben. Sieben Tage später kam dann der Anruf von der Ärztin mit der Bestätigung des Verdachts: Unsere Tochter hat das Downsyndrom.
Aus 0,01 Prozent wurden 100 Prozent Diagnose für unser weiteres Leben. Der Anruf gab uns nochmals die finale Gewissheit. In den ersten Tagen weinte ich viel. Ich hatte bis dahin keinen Kontakt zu Menschen mit Downsyndrom und trauerte meinen Träumen, die ich von unserem Leben hatte, hinterher. Googelt man den Begriff „Downsyndrom“, findet man eine lange Liste an medizinischen Risiken und Entwicklungsverzögerungen.
Aber ich fand im Internet auch Mütter, die auf Instagram ihr Leben mit ihrem Kind mit Downsyndrom zeigten und mir Mut machten.

„Mit der Community, die ich dort fand, kam auch mein Vertrauen ins Leben wieder zurück.“ -

Dort entdeckte ich auch erstmals den Hashtag #theluckyfew. Wenn Eltern mit Downsyndrom-Kindern diesen Hashtag benutzen, kann das nur bedeuten, dass ihr Kind ihnen absolute Freude bringt, so meine Gedanken. Eine Freundin gab mir das Heft „Von Mutter zu Mutter“, eine Broschüre, in der Mamas einen Brief an das eigene Ich über den Moment schreiben, in dem sie die Diagnose Trisomie 21 für ihre Kinder erhalten haben. Dort teilen sie ihr gesammeltes Wissen und ihre Erfahrungen mit anderen. Die Botschaft aller Frauen war: Alles wird gut!
Viele Eltern erfahren die Diagnose während des ersten Trimesters der Schwangerschaft und stehen dann vor einer großen Entscheidung: In neun von zehn Fällen wird sich gegen ein Kind mit Downsyndrom entschieden. Unsere Tochter ist auf der Welt und sie ist wunderbar.
Manche Entscheidungen im Leben treffen nicht wir, sondern das Leben für uns. Und wir haben es lediglich in der Hand, das Beste draus zu machen. Ich erinnerte mich immer wieder an den bekannten Satz aus Sheryl Sandbergs Buch „Option B: Facing Adversity, Building Resilience, and Finding Joy“: „Option A is not available. So let`s kick the shit out of Option B.“ Und das taten wir.
Zwei Jahre später:

„Aus meinen Ängsten wurden meine Stärken. Aus meinen Sorgen wurde Stolz. Aus meinen Tränen wurde ein breites Lächeln.“ -

Oh, wie lag ich falsch. Unsere Tochter ist das Beste, was uns passieren konnte. Sie öffnet uns und vielen Menschen in unserem Umfeld die Augen und Herzen. Sie hat im vergangenen Jahr laufen gelernt. Später als die meisten Kinder, aber ich habe verstanden, nicht mehr zu vergleichen und unserem eigenen Timing zu vertrauen. Und die Freude über ihre neuen Fähigkeiten ist jedes Mal unermesslich. Sie ist ganz offen, lächelt, winkt allen Menschen zu und liebt das Wasser und neue Erfahrungen. Wir können mit ihr alles unternehmen, was wir möchten. Sie ist keine Einschränkung. Ganz im Gegenteil:

„Sie zeigt uns den Zauber in den kleinsten Dingen und in einer neuen, langsameren Geschwindigkeit.“ -

Was ich sonst noch durch sie gelernt habe:
  1. Die Meilensteine meiner Tochter definieren nicht ihren Wert. Genauso wie meine Produktivität nicht meinen Wert definiert.
  2. Kämpfe für deine Kinder. Mit unserer Tochter begegnen uns leider immer wieder stereotypische Aussagen und Meinungen. Wir hinterfragen sie dann und regen die Menschen zum Umdenken an. Es lohnt sich einfach immer und wir wollen den Menschen mit Vorurteilen zeigen, dass alles möglich ist.
  3. Liebe ist bedingungslos. Und das bedeutet auch: Liebe zählt keine Chromosomen.
Unser Alltag sieht viel normaler aus, als man im ersten Moment erwarten würde. Sie geht aktuell vormittags in die U3-Betreuung, da ich nach einem Jahr Elternzeit wieder angefangen habe zu arbeiten. Dort ist sie das einzige Kind mit Behinderung, aber die Kinder nehmen das gar nicht wahr und spielen alle zusammen. Manchmal wünsche ich mir, dass Erwachsene ähnlich reagieren würden. Das Downsyndrom spielt keine Rolle bei den Kindern, es gibt kein Getuschel, keine Berührungsängste, keine Vorurteile. Bei Erwachsenen leider schon.
In einem Jahr wird sie in den Kindergarten unserer Stadt gehen. Dort haben wir die Möglichkeit, eine Inklusionskraft zur Unterstützung zu bekommen (d.h., der Kindergarten bekäme eine zusätzliche pädagogische Fachkraft, die besonders nach unserer Tochter guckt, aber auch generell im Kindergarten mithilft). Das können wir in die Wege leiten, müssen es aber nicht – wir möchten das zusammen mit dem Kindergarten entscheiden. Die Schule ist noch Zukunftsmusik für uns und wir werden in ein paar Jahren schauen, was sie braucht und was ihr guttut.
Viele Eltern haben auch die Bedenken, dass man ständig zu Ärzt*innen gehen muss. Außerhalb der Kita sind wir im letzten Jahr ein paar Mal bei der Physiotherapie gewesen, um ihr beim Laufenlernen zu helfen. Wir haben uns dazu entschieden, die Physiotherapie nur punktuell einzusetzen, wenn wir konkrete Anliegen haben, und ansonsten versuchen wir Übungen mit ihr zuhause oder auf dem Spielplatz zu machen. Ihre Förderung integrieren wir in unseren Alltag.
Kinder mit dem Downsyndrom haben oft Hypotonie, eine Muskelschwäche. Das bedeutet, dass sie alles erlernen können, aber für manches eben ein bisschen mehr Zeit und Anstrengung brauchen. Bei unserer Tochter ist es nicht so stark ausgeprägt. Krabbeln hat sie mit zwölf Monaten gelernt und das Laufen mit 22 Monaten. Nun ist sie nicht mehr zu stoppen. Seit diesem Jahr kommt einmal im Quartal eine Pädagogin der Frühförderung zu uns und spielt mit unserer Tochter, um ihre Stärken und Schwächen zu erfassen, und bald starten wir mit der Logopädie, weil die Sprachentwicklung auch etwas verzögert ist.
Manche Kinder mit Downsyndrom haben größere medizinische Herausforderungen, manche haben kleinere.

„Wir schauen, wo wir fördern können, ohne zu überfordern.“ -

Ich bin stolz zu zeigen, dass meine Tochter so liebenswert und wertvoll ist und wir sie unendlich lieben – ohne Bedingungen. Und ich habe das Gefühl, dass das Menschen berührt. Denn am Ende ist es doch das, wonach sich jede*r in unserer perfektionistischen und schnelllebigen Gesellschaft sehnt: geliebt zu werden ohne Bedingungen und Erwartungen, einfach so, wie man ist.
Rückblickend kann ich sagen: Ich dachte mit der Diagnose wird uns viel genommen. Aber das Gegenteil ist der Fall: Es wird uns so viel mehr gegeben. Sie schenkt uns jeden Tag Freude und Liebe und verleiht unserer Familie Leichtigkeit und Magie. #theluckyfew – jetzt weiß ich, von was die Community spricht. Klar, wir haben großes Glück, dass sie so gesund ist und keine Operationen brauchte.
Wenn ich Eltern, die eine Diagnose bekommen haben, etwas mitgeben darf: Lasst all eure Gefühle zu. Da darf Trauer sein, Wut, Schock, Überforderung, Ungläubigkeit. Und wenn man dann wieder einen klaren Gedanken fassen kann, informiert euch. Die Community auf Instagram ist groß und gibt einem authentische Einblicke ins Familienleben. Ich hätte damals gerne gewusst: Ihr seid nicht allein und es wird alles gut.
Da es eine wunderbare Community gibt, möchte ich hier noch ein paar Accounts teilen:
  1. Lavanja Official: eine Plattform für Familien mit Kindern mit Behinderungen inklusive Tipps, Fortbildungsvorschlägen und eines netten Austauschs.
  2. Von Mutter zu Mutter: Instagram-Account der Gründerin von Lavanja, Lara Mars, die selbst Mutter einer Tochter mit Downsyndrom ist.
  3. Dreifachschön: Instagram-Account einer Mutter mit drei Kindern (davon hat ein Kind das Downsyndrom), die einen inspirierenden Einblick in den Alltag gewährt.
Außerdem würde ich euch gern ein paar Unternehmen empfehlen, die tolle Produkte anbieten und sich stark für Inklusion engagieren. Auch wenn man diese Brands unterstützt, kann man etwas für mehr Gemeinschaft tun.
  1. Mari&Anne: handgemachte Naturkosmetik sowie hübsches Design aus Franken. Sehr süß ist zum Beispiel die Gesichts- und Körperseife „Goldstück“.
  2. Same Same but different: ein köstlicher Weißwein vom familiengeführten Weingut Seehof, die einen Sohn mit dem Downsyndrom haben und mit ihren Erlösen wohltätige Zwecke und Inklusion unterstützen.
  3. Talking hands: Daumenkinos und Puzzle für Gebärden, um die Kommunikation spielerisch zu vereinfachen.
  4. Special Edition Studio: Statement-Fashion für kleine und große Held*innen, die gegen Abgrenzung und für eine Gemeinschaft stehen, in der jede*r willkommen ist. Wie cool ist bitte der „I am a Warrior“-Sweater?
  5. Notjustdown: Pop-up-Shop für Klamotten und andere schöne Dinge, die mit den Zeichnungen von Marian bedruckt werden – wie der „Agal“-Hoodie mit Herzmotiv.
Ich hoffe, dass euch meine Geschichte zeigt, dass eine Diagnose von Ärzt*innen nicht immer das Ende, sondern auch den Anfang von einer ganz besonderen Reise bedeuten kann.
Eure Wiebke

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