Elternsein & Geburt
Ist mein Kind „irgendwie anders“?
Jedes fünfte Kind ist neurodivergent. Der Weg zu einer Diagnose ist für Eltern oft lang und anstrengend. Und dann kommen noch Außenstehende dazu, die alles für einen Erziehungsfehler halten.
von Julia Felicitas Allmann - 01.01.2025
Anfangs hielt Laura das Verhalten ihres Kindes für den ganz normalen Wahnsinn in der Autonomiephase. Schreiend in der Drogerie auf den Boden werfen, weil es nicht den richtigen Badezusatz gibt: Erleben das nicht alle Eltern mit ihrem Kind mal? Muss man da nicht einfach durch? „Im Laufe der Jahre haben wir aber festgestellt, dass unser Kind sehr stark fühlt – stärker als die meisten anderen“, erzählt Laura Wülfing, die in Köln lebt und über den Instagram-Account „Willkommen bei den Wues“ viele Follower*innen mit durch ihren Alltag nimmt. Dabei spricht sie offen darüber, dass ihr älteres Kind im Autismus-Spektrum liegt.
„Im Kindergarten-Alter wurde mir dann wirklich bewusst, dass sich bei uns vieles nicht in dem Rahmen abspielt, wie es bei anderen Familien ist“, sagt sie. „Es fühlte sich alles krasser an. Doch wir hatten das typische Problem, dass wir anfangs dachten, es läge an uns. Dass wir etwas falsch gemacht haben.“ Ratschläge von Außenstehenden sorgen dabei oft für zusätzlichen Stress und für massive Verunsicherung: Die Eltern müssen stärker durchgreifen, dürfen sich nicht alles gefallen lassen, wären einfach nicht konsequent genug – solche Kommentare gibt es häufig. Was Außenstehende (und oft auch die Eltern selbst) nicht wissen:

„Das Kind kann in diesem Moment nicht anders – weil das Gehirn auf andere Art funktioniert als bei neurotypischen Menschen.“ -

„Bei uns war es zum Beispiel so, dass mein Kind immer komplett ausgerastet ist, wenn sich ein anderes Kind verletzt hat. Es ging nie hin, um das andere Kind zu trösten, es fiel ihm schwer, Hilfe zu holen. Sondern es bekam vor lauter Überforderung einen Wutausbruch“, erzählt Laura. „Mit der Geburt unseres zweiten Kindes wurde alles noch viel stärker. Es ist für die älteren Kinder immer schwer, nicht mehr der Mittelpunkt zu sein, aber auch das fühlte sich bei uns irgendwie anders an. Da bekamen wir wirklich das Gefühl: Es ist keine Schikane, mein Kind möchte mich nicht bewusst verletzen, sondern es sieht gerade keinen anderen Weg, als mich zu beschimpfen, vielleicht auch körperlich auf mich loszugehen.“ 
Wie groß anfangs die Herausforderungen für Eltern sind, mit neurodivergenten Kindern umzugehen – und diese Besonderheit erst einmal zu erkennen –, das weiß auch Saskia Niechzial. Sie hat drei Kinder, von denen zwei neurodivergent sind. Bei ihr selbst wurde erst im Erwachsenenalter Autismus und ADHS diagnostiziert und als Grundschullehrkraft setzt sie sich dafür ein, jedes Kind individuell und zeitgemäß zu begleiten. Wie das aussieht, teilt sie auch bei Instagram und ihr Buch „Ein Kopf voll Gold“ soll Eltern mit neurodivergenten Kindern Wissen vermitteln und sie stärken.
 „Mit der Zuschreibung, dass ein Kind neurodivergent ist, geben wir Eltern die Möglichkeit, einen Begriff zu verwenden, der nicht direkt wertet“, sagt sie. „Neurodivergenz bedeutet, dass man in der Art zu denken, zu fühlen und wahrzunehmen von dem abweicht, was die Gesellschaft als Norm gesetzt hat. Und das ist keine medizinische Norm: Wir sind einfach daran gewöhnt, dass Menschen auf eine bestimmte Art und Weise wahrnehmen, denken und fühlen.“ Es gibt allerdings Personen, die aufgrund bestimmter Funktionsweisen des Gehirns von dieser neurotypischen Variante abweichen – sie sind neurodivergent. 
„Ganz lange hat man das sehr verurteilt und Kategorien wie ‚normal und unnormal‘ oder ‚gesund und krank‘ benutzt, das ist zum Glück lange überholt. Gegen Ende der 90er Jahre hat sich die Bewegung gebildet, dass man sagt, an dieser Art zu denken und wahrzunehmen ist nichts falsch, es ist schlichtweg anders“, sagt Saskia.

„‚Und in einer Welt, die für neurotypische Menschen gemacht ist, bringt das Schwierigkeiten mit sich. Aber auch ganz viel Potenzial.‘“ -

Saskia ermutigt Eltern, den Blick auf das Positive zu richten, doch vor allem am Anfang ist das für viele schwer. Es kann anstrengend sein, ein neurodivergentes Kind zu begleiten, und es ist nicht einfach, zu einer Diagnose zu kommen. Häufig zeigt sich rund um den Schulbeginn, dass das Gehirn eines Kindes anders funktioniert, zum Beispiel bei Legasthenie und Dyskalkulie. Geht es um Neurodivergenz im Sinne von ASS (also Autismus-Spektrum) oder ADHS, gibt es Hinweise oft schon im Kleinkind-Alter – oft jedoch ohne konkrete Diagnose. 
Der Statistik zufolge ist jedes fünfte Kind neurodivergent. Wenn du diesen Text liest und ein Kind hast, liegt die Wahrscheinlichkeit also bei 1:5, dass auch bei euch eine neurodivergente Variante vorliegt – bei mehreren Kindern ist sie entsprechend höher. Das soll niemanden verrückt machen, es soll nur sensibilisieren. Und zur wichtigen Frage führen: Woran merken Eltern, dass sie ein neurodivergentes Kind haben?
„Meist fängt es mit einem Bauchgefühl an“, sagt Saskia. „Oft spürt man schon im Babyalter, dass sich die anderen Kinder irgendwie anders verhalten, dass es für einen selbst anstrengender ist, dass es sich nicht nur um eine Phase handelt – sondern die Entwicklung eher in Schleifen verläuft.“ Sie rät dazu, solche Beobachtungen früh mit dem Kinderarzt oder der Kinderärztin zu teilen und sich immer mal wieder dazu abzustimmen. „Dann ist der Schritt nicht ganz so groß, wenn man mit sechs Jahren plötzlich sagt: Wir würden gern mal zu einem Kinderpsychologen.“ 
Meist überweisen die Kinderärzt*innen bei einem Verdacht an spezialisierte Psycholog*innen oder Psychiater*innen, es gibt zusätzlich sonderpädagogische Frühförderzentren oder sozialpädiatrische Zentren, die eine Diagnose durchführen können. Wenn man dort einen Termin bekommen hat, ist man „im System“, sagt Saskia. „Ab dann wird man durch alle weiteren Schritte geführt.“
Auch Laura ist noch immer im Diagnoseprozess, ihr Kind ist gerade auf die weiterführende Schule gekommen. „Wir sind schon lange mit einem Kinder- und Jugendpsychiater im Gespräch und holen uns gerade eine zweite Meinung ein“, sagt sie. „Denn leider sind wir in Deutschland noch nicht so weit wie zum Beispiel in den USA. Bei uns läuft es meist so, dass Eltern sehr standardisierte Bögen ausfüllen, in denen einzelne Punkte abgefragt werden, die aber lange nicht das ganze Autismus-Spektrum erfassen.“ Denn dass Autist*innen zuhause alle Spielsachen nach Farben sortieren, eine Inselbegabung haben, es aber nicht schaffen, anderen Menschen in die Augen zu sehen: Das ist ein Klischee, das lange nicht das komplette Spektrum abbildet. 
„Unser Kind kommt in der Schule gut mit und es hat auch Freund*innen“, sagt Laura. „Aber es braucht nach der Schule erst einmal ganz viel Ruhe. Mein Kind nimmt alles sehr stark auf und es ist einfach eine große Anstrengung, den Tag komplett mitzumachen. Viele Kinder – vor allem Mädchen – im Autismus-Spektrum schaffen es, sehr gut zu maskieren. Das ist bei uns auch so.“ Das bedeutet:

„Sie erfüllen Erwartungen, von denen sie wissen, dass sie an sie gestellt werden. Sie spielen das ganze Spiel mit, obwohl es ihnen so viel schwerer fällt als anderen. Und wenn sie dann zuhause sind, wenn sie in ihrem Safe Space sind – dann bricht die komplette Anspannung aus ihnen heraus.“ -

Laura weiß inzwischen, was ihrem Kind guttut, wie sie es möglichst behutsam begleiten kann, doch trotzdem bleiben die Meltdowns nicht aus. „Manchmal passiert es täglich, manchmal nur einmal pro Woche“, sagt sie. „Dann rastet mein Kind aus, schreit mich an, dass ich die schlimmste Mutter überhaupt bin, geht körperlich auf mich los.“ Laura hat gelernt, das nicht persönlich zu nehmen, später keine Entschuldigung zu verlangen, sondern ihrem Kind einfach Ruhe zu gönnen. „Oft stelle ich ein Tablett mit einem Tee, einer kleinen Süßigkeit oder Obst und einem lieben Zettel vor die Tür des Kinderzimmers“, sagt sie. „Wenn der Ausbruch vorbei ist, schaffen wir es meistens, uns einfach wieder in den Arm zu nehmen, und ich sage dann, dass wir gemeinsam da durchgehen.“ 
Bei Instagram teilt Laura ihre Erlebnisse offen und bekommt in einem Reel wie diesem, in dem es um die starke Fähigkeit zum Maskieren geht, viele Kommentare von Eltern (vor allem: Müttern) in ähnlichen Situationen. Viele von ihnen fühlen sich von ihrem Umfeld unverstanden, schließlich wirkt das Kind oft so normal. „Ich höre das auch oft“, erzählt Laura.

„‚Andere Mütter sagen dann, mein Kind sei bei ihnen immer so fröhlich und entspannt, ob ich mir denn wirklich sicher sei …?‘“ -

Auf ihrer Mission, für einen offeneren und positiveren Umgang mit neurodivergenten Kindern zu sorgen, will Saskia Niechzial Eltern auch für solche Situationen wappnen. Sie kennt es auch aus eigener Erfahrung, dass Außenstehende die Diagnose ihrer Kinder anzweifeln, die Neurodivergenz als Einbildung oder Modeerscheinung belächeln. „Hier ist es wichtig, Schlagfertigkeit zu üben“, sagt sie. „Ich reagiere oft mit einer Gegenfrage und möchte noch einmal genau wissen, wie die andere Person das meint, ob sie es bitte noch einmal wiederholen könne – das bringt sie oft völlig aus dem Konzept.“ Es helfe auch, mit Zahlen zu kontern, zum Beispiel so: „Die Statistik belegt, dass jedes fünfe Kind neurodivergent ist, und man geht von einer hohen Dunkelziffer aus. Ich schicke dir gerne dazu ein paar Infos, wenn du Interesse hast.“

„Dafür muss man als Elternteil aber erst einmal selbst stabil sein, gut informiert und bereit, offen mit dem Thema umzugehen.“ -

„Je mehr wir darüber reden, desto selbstverständlicher wird es“, sagt Saskia. „Nehmen wir an, ein autistisches Kind ist auf einem Kindergeburtstag eingeladen. Dann kann ich als Mutter die Eltern vorab darüber informieren, dass das Kind eigenes Essen im Rucksack hat, falls es das Essen auf der Feier nicht mag.“ Wenn man das genauso selbstverständlich sage wie „Meine Tochter trägt eine Brille und braucht sie für die Spiele“ oder „Mein Sohn ist Linkshänder, das könnte beim Tennis wichtig sein“, dann gäbe es viel mehr Klarheit und weniger Aufregung. 
Darüber sprechen, sich austauschen, mehr Kraft für den herausfordernden Alltag sammeln: Das will Laura Wülfing auch anderen Müttern ermöglichen. Sie bietet gemeinsam mit einer Freundin, die ebenfalls ein autistisches Kind hat, Workshops für Mütter von Kindern mit besonderen Bedürfnissen an. 
„Ruhe im Sturm“ ist der Titel des Workshops und das Motto ist von Jon Kabat-Zin übernommen: „You can’t stop the waves, but you can learn how to surf.“

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