Gefühle & Gedanken
Jetzt mal ehrlich
Ildikó von Kürthy übers Friedenschließen mit der Sicht auf sich selbst.
von Ildikó von Kürthy - 01.04.2022
Ich kann diese Geschichte nicht schreiben. Ich bin nicht die Richtige dafür. Das wird mir leider erst jetzt klar, wenige Tage vor dem Abgabetermin. Das ist ein sehr ungünstiges Timing und tatsächlich hätte man zu Recht von mir erwarten dürfen, dass ich meine Fähigkeiten besser einschätzen kann. Ich hatte mir wohl so sehr gewünscht, dass das Thema zu mir passt, dass ich unaufmerksam war und zugesagt hatte, bevor ich mir hatte eingestehen können, dass das Angebot zwar schmeichelhaft, aber leider nicht das richtige für mich war.
„Wie ich aufhörte, gefallen zu wollen.“ So die geplante Überschrift. Das klingt aber auch zu gut. So emanzipiert und weise, so unabhängig und stark. Wer wäre das nicht gern? Es ist, als sei ich gebeten worden, Reklame für straffe Haut, wahlweise geschmeidiges Haar zu machen oder einen Impulsvortrag zum Thema „Risikofreude und Abenteuerlust“ zu halten.
Jedoch: Ich bin zügig am Verschrumpeln, mein Haar war niemals eine Frisur, nie auch nur ansatzweise geschmeidig und ich liebe mein Zuhause und Herausforderungen liebe ich nicht. Verehrte, womöglich enttäuschte Leser*innen, ich habe das Thema verfehlt, bevor ich überhaupt angefangen habe zu schreiben. Denn

„ich will gefallen. Und ich habe nie damit aufgehört, gefallen zu wollen. Ich gefalle gern.“ -

Das ist die Wahrheit. Und ob sie bitter ist, das werden wir sehen.
Ich höre sie stets mit einer Mischung aus Bewunderung und Argwohn, diese wuchtigen Sätze aus dem Munde nicht immer eindrucksvoller, sich jedoch immer für eindrucksvoll haltender Menschen. „Es ist mir egal, was andere über mich denken!“ Oder: „Ich will keine Sympathie, ich will Respekt!“ Oder: „Ich mache das nur für mich (gemeint ist hier Muskelaufbau, alternativ Lidstraffung, Brustvergrößerung, Kopfhaartransplantation) und nicht für andere!“ Oder eben: „Ich will nicht anderen gefallen, sondern nur mir selbst!“
Und oft genug gefallen solche Menschen auch nur sich selbst. Das aber dann besonders gut.
Ich empfinde es nicht als ehrenrührig oder devot, anderen gefallen zu wollen. Im Gegenteil. Das Streben nach Anerkennung ist zutiefst human, es zeichnet uns aus, es macht uns zu sozialen Wesen, zu Menschen, die sich geborgen und motiviert fühlen durch die Zuneigung, das Lob, das Wohlwollen, die Annahme und die Anteilnahme der Gemeinschaft.
Man denke sich eine Welt, in der niemand mehr einem anderen gefallen wollen würde. Nicht vorstellbar und nicht wünschenswert. Wenn ich nach einer Lesung auf die Bühne trete, hoffe ich auf Applaus, denn ich habe mein Bestes gegeben. Ich wünsche mir sehr, dass mein Buch meinen Leser*innen gefällt, denn es liegt mir am Herzen und ist mit Mühe und Sorgfalt entstanden. Ich möchte, dass meine neue Frisur meinem Mann, mein Vorschlag meiner Chefin, mein Kuchen meinen Kindern und mein Kleid den Gäst*innen gefällt. Es ist mir wichtig, anderen zu gefallen. Und ich will nicht damit aufhören.
Hier könnte die Geschichte zu Ende sein. Aber hier fängt sie erst an. Denn das Problem ist nicht, anderen gefallen zu wollen.

„Das Problem ist, anderen besser gefallen zu wollen als sich selbst.“ -

Sich selbst aus den Augen zu verlieren bei dem Bemühen, von anderen gesehen zu werden.
Ich habe gerade einen Roman beendet – ich hoffe, er wird euch gefallen –, in dem die Protagonistin Ruth sich langsam eingesteht, dass sie ein Leben auf Zehenspitzen führt, in dem es darum geht, nichts falsch zu machen und ständig Rücksicht zu nehmen ohne Rücksicht auf sich selbst. Sie hat aufgehört, zu fragen, wer sie ist, sie fragt sich nur noch, wer sie sein soll.
Ruth sagt: „Ich habe das dünne Haar, die schwachen Nerven, die Zähne und das Harmoniestreben meiner Mutter geerbt. Wir gehören zu den Frauen, die gefallen wollen, wir brauchen Frieden, sind gutmütig und in der Lage, unsere Bedürfnisse dem Gemeinwohl unterzuordnen. Bei Hunderassen nennt man diese Eigenschaften ‚will to please‘. Mama und ich hätten ein paar hervorragende, für die Zucht geeignete Golden Retrieverinnen abgegeben. Ich weiß mich zu benehmen, ich bin nie auffällig, nie ausfällig. Ich habe die richtige Kleidergröße und halte mich am Buffet zurück. Ich habe meine Leidenschaft und mein Verlangen zurechtgestutzt wie die Hecken in den Vorgärten der besseren Gegenden. Ich habe mich passend gemacht und mich daran gewöhnt zu glauben, gut genug sei für mich gut genug. Ich bin so ein widerlich braves Mädchen. Man kann mich nicht gerade konfliktfreudig nennen, selbst konfliktscheu wäre noch geschmeichelt. Ich habe eine Konfliktphobie, eine schwere Streitallergie, eine unkontrollierbare Sucht nach Eintracht.
Harmonie ist mein Heroin. Ich komme nicht los davon. Ich bin eine jener zahnlosen Frauen, die sich alles gefallen lassen, bloß um zu gefallen. Die auf Nachtisch und Karriere verzichten, sich um alles kümmern außer um sich selbst, die den Tisch decken und ihn wieder abräumen, die sich ständig entschuldigen um des lieben Friedens willen und nicht kapieren, dass sie dieser Frieden ihr eigentliches, wahrhaftiges Leben kostet. Wir begnügen uns mit dem Platz backstage, applaudieren laut, klagen still und bleiben weit hinter dem zurück, was wir können und was wir einmal wollten. Wir möchten niemandem im Weg sein. Gefallen um jeden Preis. Wir wollen nicht stören. Niemand kann uns hören.“
Die Frage, die ich mir stelle, lautet also nicht: „Wie höre ich auf, anderen gefallen zu wollen?“, sondern: „Wie fange ich an, mir selbst zu gefallen?“ Und das ist eine Mammutaufgabe. Denn

„unsere Hirne stecken voller Prägungen, voller kleiner und großer Verletzungen,“ -

voller Urteile über und Forderungen an uns, die oft nichts mit dem zu tun haben, wer wir sind und wer wir sein wollen. Als ich dreizehn Jahre alt war, verspottete mich ein Freundin wegen meiner struppigen Haare. Als ich fünfzehn war, machte sich ein Typ über meine angeblich zu kleinen Brüste lustig. Was soll ich sagen? Ich habe Jahrzehnte gebraucht, um über diese Kränkung hinwegzukommen, um diese Äußerungen als das einzuordnen, was sie sind: Bemerkungen, die ausschließlich etwas über den fragwürdigen Geschmack des Senders aussagen und nichts über mich, die Empfängerin.
Frauen sind wahre Meisterinnen darin, sich mit den Augen anderer zu sehen statt mit ihren eigenen. Und das ist nicht nur schlecht. Unterstützt durch die Harmonie- und Nestbauhormone Östrogen und Progesteron sind wir empathischer, diplomatischer, friedlicher und vorsichtiger als unsere Kollegen mit dem Y-Chromosom im Genom und dem Testosteron im Blut. Die Gefahr, dass Frauen sich bei dem Kraftakt, von möglichst vielen gemocht zu werden, so verbiegen, dass sie irgendwann entweder Haltungsschäden bekommen oder ganz daran zerbrechen, ist allerdings groß.
Mein Vater war der Mann, dem ich, wie alle kleinen Mädchen, am meisten gefallen wollte. Mein Vater, dieser überpräsente, übermutige Mann, der mir womöglich zu viel abverlangte und mir zu häufig den Satz predigte: „Angst ist dazu da, überwunden zu werden.“ Und so versuchte ich mutig zu sein. Viel zu mutig. Und das hat mir Angst gemacht. Eine unüberwindliche. Bis heute.
Ich bin feige und habe keine Frisur und ich will immer noch anderen gefallen, besonders denen, die ich liebe. Aber nicht um jeden Preis. Der Vorteil des Älterwerdens ist, dass man sich schon eine ganze Weile lang kennt.

„Mein Östrogenspiegel sinkt und mit ihm das Gefühl, für alles zuständig zu sein.“ -

Ich will mich mögen. Ich bin über die Jahre ein Profi für mein eigenes Leben geworden. Ich weiß, was ich will und was nicht, ich weiß, was ich kann und was nicht. Ich weiß, wer ich bin und wer ich nicht bin. Ich mache mich nicht mehr kleiner, als ich bin, damit andere sich größer fühlen können, als sie sind. Ich übernehme Verantwortung. Mir ist kaum noch etwas peinlich. Wenn ich einen Fehler mache, gebe ich ihn zu, und ich entschuldige mich nur noch, wenn ich es auch wirklich so meine. Ich bin am liebsten zuhause und umgeben von meinen Liebsten. Ich brauche siebeneinhalb Stunden Schlaf, und meine Abenteuer erlebe ich in den Weiten meines Kopfes oder den Tiefen meines Herzens. Ich habe Frieden geschlossen mit meinen Brüsten und ich mag meine wilden Haare.
Im letzten Sommer fühlte ich mich im Freibad wie befreit, als mir bewusst wurde, dass ich von meinem Körper nicht mehr erwarte, dass er gut aussieht. Ich schritt heiter und ohne mir wie sonst ein riesiges Badetuch überzuwerfen an wohlgeformten, jungen Menschen vorbei und dachte: „Werdet ihr erst mal so alt wie ich. Lebt ein halbes Jahrhundert. Begrabt eure Eltern und manche Hoffnungen, verwirklicht Träume, lernt, liebt, verliert, erzieht Söhne und Hunde, werdet erwachsen und bleibt Kinder, kriegt Rückenbeschwerden, aber bleibt beweglich, bekommt eine Heidenangst vor dem Tod und lacht trotzdem so laut, dass die Wände wackeln. Werdet erst mal so alt wie ich. Dann ist es euch hoffentlich auch egal, wenn euer Hintern hängt und ihr das Kleingedruckte nicht mehr lesen könnt. Denn darauf kommt es dann zum Glück nicht mehr an.“ Heute schaue ich in den Spiegel und denke: „Die Alte, da, die gefällt mir!“
Noch mehr schlaue Gedanken dieser Art gibt`s von Ildikó in ihrem neuen Roman „Morgen kann kommen“, der am 12. April 2022 erscheint. Am 27. April 2022 um 20 Uhr treffen wir hier im Abo Ildikó exklusiv zum Liveabend. Ihr könnt fragen, was immer ihr möchtet. Ildikó war auch bereits in unserem sehr ehrlichen Eltern-Podcast „Lass es raus“ zu Gast und hat im „Endlich Om“-Podcast Steffi sehr ehrlich von ihren Ängsten erzählt, falls ihr euch damit noch auf den Liveabend vorbereiten möchtet. Oder ihr lest einfach in Windeseile das Buch. Wir freuen uns jetzt schon auf den Abend! 
Portrait: Sonja Tobias

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