Gefühle & Gedanken
Rauchen oder rupfen?
Früher hat sie Gras nicht aus Fugen gekratzt, sondern gekifft! Alexa überdenkt ihr Spießigsein.
von Alexa von Heyden - 01.12.2020
Die Audiodatei findet ihr am Ende des Textes.
         
Neulich kniete ich vor unserem Haus und popelte mit einem Fugenkratzer das Gras zwischen den Gehwegplatten heraus. Ich sammelte die kleinen grünen Halme in einem Eimer, um dann zum Schluss den Gehweg mit einem Besen kräftig abzuschrubben. Ich wollte, dass unser Haus vor dem Beginn der Adventszeit ordentlich aussieht – vor allem, was den Eindruck von außen betrifft. Ich war zufrieden: Der Gehweg blitzte und glänzte wie seit Jahren nicht mehr.
Das Postauto hielt und die Briefträgerin übergab mir zwei Pakete: eins mit einem Pullunder (in meiner Wahlheimat Brandenburg sagt man „Westover“), den ich in Kombination mit einer blütenweißen Bluse mit Spitzenkragen und Loafer an Heiligabend tragen wollte. In dem anderen Paket befand sich mein neu abgeschlossenes Klopapier-Abo: 16 Rollen vierlagiges Comfort-Toilettenpapier, alle vier Wochen frei Haus. Shit, dachte ich in diesem Moment: „Wann bin ich so spießig geworden?“
Ich zog meine Gartenschuhe aus, ging ins Haus und überlegte mir, ob ich den restlichen Tag nicht einfach blaumachen sollte.

„Was würde mein jüngeres Ich zu der graspopelnden Pullunder-Trägerin mit monatlichem Klopapier-Abo sagen?“ -

Sicherheitshalber googelte ich den Namen meines damals krassesten Mitschülers, um zu sehen, was aus ihm geworden ist. Ich blickte in das Gesicht eines aparten Versicherungsfachmanns und inzwischen Dreifachpapas, dem man nicht mehr ansah, dass er früher in jedem Zimmer auf einen Stuhl kletterte und das Kreuz über der Tür umdrehte.
Werden wir, je älter wir werden und je mehr unsere Verantwortung wächst, zwangsläufig immer braver – oder gilt sogar: je krasser in der Jugend, desto spießiger im Alter? Mein Klassenkamerad P. wäre der lebende Beweis für diese These.
Und was ist mit mir? Meine Mutter sagte, ich sei früher „unerziehbar“ gewesen, weil ich die Skateboarder auf der Halfpipe interessanter als die Sinuskurven fand und ständig die Schule schwänzte. Das hat natürlich nichts mehr mit der Alexa zu tun, die ihr heute kennt. Seit der Coronakrise sortiere ich Gewürze alphabetisch, Socken nach Material und die Buntstifte meiner Tochter nach Länge.

„Irgendwo in meinem Leben muss ich schließlich das Gefühl haben, noch im Cockpit zu sitzen.“ -

Als studierte Modejournalistin würde ich diagnostizieren, dass der Trend zu Spitzenblusen, Pullundern und Schuhen mit dicken Sohlen auf dem Gefühl des kollektiven Kontrollverlusts durch die Pandemie rührt. In Zoom-Calls will ich nicht nur verlässlich wirken, sondern vor allem: ready. Denn während ich mich im ersten Lockdown aufgegeben und amtsverordnet in Jogginghose auf dem Sofa geschimmelt habe, reicht es mir jetzt mit der Fremdbestimmung. Ich warte auf die erlösende Nachricht: Das Coronavirus ist besiegt, auf geht’s in die neue Zukunft – genau für diesen Moment will ich wie aus dem Ei gepellt sein, wie eine Erstklässlerin für ihren ersten Schultag.
Am nächsten Tag schrieb mir Steffi eine E-Mail: Ich solle bitte Kontakt zu Abonnentin G. aufnehmen – sie habe so eine lustige Nachricht geschrieben, und zwar, dass sie und ihr Mann, mit dem sie seit 15 Jahren zusammen ist, gerne gemeinsam kiffen und dann in die Wanne steigen, um high fantastischen Sex zu haben. „Was niemand über uns weiß“ – so der Arbeitstitel für die mögliche Sammelgeschichte über die kleinen Geheimnisse, die in Langzeitbeziehungen dafür sorgen, dass es nicht langweilig wird.
Ich rief G. an, die sich zu dieser Zeit mit ihrer Tochter auf einer Mutter-Kind-Kur im Allgäu befand. Eine coole und sehr herzliche Frau, so mein erster Eindruck. Da kam aber noch was! G. schaltete ihrer Kleinen eine Folge „Peppa Wutz“ an und erzählte mir lakonisch, dass sie und ihr Mann nicht nur zusammen kiffen, baden und dann Sex haben. Nein, die Badewanne steht praktischerweise gleich im Schlafzimmer und das Gras für ihre „Zauberzigaretten“ bauen sie selbst im Keller an, um eventuelle Lieferengpässe überbrücken zu können. Befreundete Kiffer hätten immer sämtliche Vorräte selbst vernichtet und das nerve das Paar, also sei es jetzt Selbstversorger. Ansonsten seien sie aber „die totalen Spießer“ (O-Ton), die mit ihren zwei Kindern in einem Reihenendhaus wohnen.
Ich am anderen Ende der Leitung verwandelte mich in mein jüngeres Ich zurück und dachte die ganze Zeit nur:

„Warum jäte ich Unkraut und frage meinen Mann, ob wir abends eine Sendung über Haussanierungen gucken, statt high in der Wanne zu vögeln?!“ -

Zumal mir G. noch erzählte, dass mit dem Kiffen nicht nur die Entspannung kommt, sondern auch die Lust – ohne Joint sei die nicht so ausgeprägt bei ihr vorhanden, was ich nach einem Zehnstundentag in Zeiten einer Pandemie nur bestätigen kann. G. meinte außerdem, bekifft sei bei ihr die Lust teilweise sogar so stark, als würde sie eine Nacht mit Jude Law verbringen. Auch der Orgasmus sei high wesentlich intensiver und eindrucksvoller. Anders als bei der Selbstbefriedigung trete bei Sex auf Drogen bei ihr auch kein Gewöhnungseffekt auf. Im Gegenteil. Oft denkt G. danach: „Also, so geil wie heute war es ja noch nie!“ Ist das nicht ein Gefühl, das wir gerade alle haben wollen?
Natürlich soll hier niemand zum Anbau, geschweige denn zum Konsum von illegalem Rauschgift ermuntert werden. Aber die Geschichte von einer Frau wie G., die von außen betrachtet ein berechenbares Leben führt und es in ihrem Reich gehörig krachen lässt, war für mich der Weckruf, dass zwischen Gras aus den Ritzen popeln und selbst im Keller anbauen noch ein bisschen Luft für kleine Verrücktheiten ist.
Ich legte auf, kündigte mein Klopapier-Abo und schickte den Pullunder zurück. Denn die längste Beziehung in meinem Leben habe ich immerhin mit mir selbst – wäre doch schade, wenn’s langweilig wird.
         
Die Audiodatei gibt es hier zum Download.

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