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„Hast du dir das gut überlegt?“ Diese Frage wurde ich in den vergangenen Jahren immer wieder gefragt. Nein, habe ich nicht. Was gab es denn da zu überlegen? Die Schwester meines Freundes rief mich im Mai 2012 an und fragte mich, ob ich mit ihm ihr Kind adoptieren würde. Ich war seit Oktober 2011 mit ihm zusammen, ich wusste, er war der Mann meines Lebens und sollte der Vater meiner Kinder werden – irgendwann. Also antwortete ich meiner Schwägerin mit: „Ja“.
Wenn ich mir heutzutage vorstelle, in welcher Situation sich Jana damals befunden haben muss, bekomme ich keine Luft mehr. Die Beklemmung, wenn ich mir nur vorstelle, dass unsere beiden wundervollen Kinder ohne mich oder ohne ihren Vater aufwachsen müssten, nimmt mir den Atem, sofort, und jedes Mal. Eines dieser beiden Kinder ist Simon, ihr Sohn, jetzt auch mein Sohn, um den es damals im Mai 2012 ging.
Jana war an Brustkrebs erkrankt, lange bevor ich sie kannte. Eigentlich galt sie als geheilt und bekam dann, als ihr Sohn gerade vier Jahre alt war, die Nachricht, dass der Krebs nun doch in Leber, Lymphknoten und Gehirn gestreut hatte. Ich bin Ärztin, ich konnte die Situation etwas einschätzen und gab ihr in Gedanken noch ein Jahr. Als sie damals 2012 vor diese unmögliche Entscheidung gestellt wurde, was mit ihrem Kind passieren sollte, wenn sie starb, rief sie als Erstes mich an.
Zu dem Zeitpunkt hatte ich sie vielleicht drei Mal getroffen. Heute weiß ich, warum sie mich auserwählt hat – weil ich die Mutter sein sollte. Weil ich „sie“ sein sollte und ihrem Sohn alle Liebe geben sollte, die sie ihm so gerne sein ganzes Leben lang gegeben hätte. Für Jana war sofort klar, dass ihr Bruder zu einer Adoption zustimmen würde, schließlich hatten die beiden eine enge Beziehung. Ob aber auch die Frau an seiner Seite zustimmen würde, stand noch in den Sternen.
Nach dem Anruf war ich mir sicher, dass ich mit in dieses Boot springen würde.
„Die besten Entscheidungen seines Lebens trifft man doch aus dem Bauch heraus, ohne nachzudenken.“ -
Heute weiß ich, wie richtig meine Intuition damals war, denn heute sind mein Mann und ich verheiratet und haben neben unserer leiblichen Tochter noch einen Sohn. Die beiden Kinder sind beste Freunde und echte Rabauken. Ich hasse es, wenn jemand zu meinem Sohn „Adoptivsohn“ sagt, weil es sich immer so anhört, als wäre ich nicht seine richtige Mutter und als würde er nicht bedingungslos dazugehören.
Die größte Angst, die ich heutzutage habe, ist, dass er irgendwann genau das einmal zu mir sagt, dass ich nicht seine richtige Mutter bin. Die größte Angst seiner leiblichen Mutter dagegen war, was mit ihm nach ihrem Tod passieren würde. Wir haben im Vorhinein alle Register gezogen, so dachten wir. Es gab ein eindeutiges Testament, dass es der Wunsch der leiblichen Mutter sowie unser Wunsch ist, den Kleinen bei uns aufzunehmen.
Es gab mehrere Treffen mit dem Jugendamt, Anwält*innen und Psycholog*innen, um den gesamten Prozess vorzubereiten. Als es meiner Schwägerin im Dezember 2013 gesundheitlich schlechter ging, zog sie mit ihrem Sohn zu uns, um ihn schon einmal in der neuen Umgebung einzugewöhnen und im Kindergarten anfangen zu lassen, solange sie noch bei ihm war. Wir hatten mit dem Ausbau der Wohnung begonnen, um ein Kinderzimmer einrichten zu können, und wähnten uns naiv in dem Glauben, alles würde so laufen wie geplant.
Dann war es so weit und wir mussten uns verabschieden. Mein Mann wurde relativ schnell vom Gericht als Vormund bestellt und beim Jugendamt versprach man uns eine komplikationslose Abwicklung. Es sollte aber anders kommen.
Eines meiner absoluten Hassworte ist mittlerweile das „Kindswohl“. Hört sich erstmal furchtbar an und unter dem Vorwand des Kindswohls wurde alles gerechtfertigt, was in den nächsten Monaten passieren sollte. Das Jugendamt am Wohnort der verstorbenen Mutter war zuerst zuständig. Die Sachbearbeiter*innen dort waren wahnsinnig nett und kannten uns alle. Leider war dann plötzlich das Jugendamt an unserem Wohnort für diesen Fall zuständig und daher eine andere, uns bis dahin völlig unbekannte Sachbearbeiterin. Diese durften wir dann bei uns zuhause empfangen, weil sie sich einen Eindruck von Simons Lebenssituation verschaffen wollte. Alles sollte perfekt sein.
„Vor keiner Prüfung und keinem Staatsexamen war ich je aufgeregter.“ -
Also wurde nicht nur geputzt, gewaschen, gebohnert und das allererste Mal die Fenster gewischt … die ganze Wohnung musste kindersicher sein, inklusive aller Steckdosen, alle Haare mussten frisch geschnitten und die Schränke von innen aufgeräumt werden (was, wenn jemand reinschaut?). Im Kühlschrank sollten möglichst nur frische und gesunde Lebensmittel sein (was, wenn jemand reinschaut?). Das Kinderzimmer sollte selbstverständlich ordentlich (aber nicht zu ordentlich) und mit zahlreichen (aber nicht zu vielen) altersgerechten Spielsachen ausgestattet sein. Auf dem Tisch mussten, neben frischem Kaffee und grünem Tee sowie einer Auswahl an Biosäften, frisches Obst und ein paar Kekse stehen (selbstredend gesund und selbst gebacken).
Wir waren aufgeregt. Und es lief hervorragend. Die Dame war furchtbar nett, begeistert von uns, unserem Zuhause und vor allem unserem liebevollen Verhältnis zueinander. Der Kleine sagte auf Nachfrage, dass er gerne bei uns leben würde und schon einige Freunde gefunden hätte.
Dann wurde eine Sozialpädagogin bestimmt, die als „Anwältin des Kindes“ im Interesse des Kindswohles seine Sichtweise vor Gericht vertreten sollte. Das hörte sich toll an, fand ich. Das „Interesse des Kindes“ war ja doch unbestreitbar in dieser, ihn liebenden, Familie aufzuwachsen, die sich die Mutter gewünscht hatte. Auf das Kennenlernen mit Kind hatte ich mich sogar gefreut. Als wir dort ankamen, war es eiskalt in dem Zimmer, in das man uns führte. Manchmal trügt der erste Eindruck nicht. Das Gespräch mit uns, ohne Kind, war noch irgendwie nett. Wann wir heiraten wollten? Ob wir eigene Kinder wollten? Etwas persönliche Fragen von einer etwas unsympathischen Frau, aber nur unangenehm und nicht dramatisch.
Das Gespräch mit dem Kleinen fand dann ohne uns statt. Danach war alles anders. Er war still, zurückhaltend, anhänglich und in mir schrie alles, dass etwas überhaupt nicht in Ordnung sei. Meinem Mann wurde dann im Abschlussgespräch allein gesagt, dass der Kleine mich nie als Mutter akzeptieren werden würde, schließlich sei meine Jacke in dem Einzelgespräch mit Simon vom Sofa gerutscht und er habe sie nicht aufgehoben. Das sei eindeutig als Zeichen zu werten, dass hier keine emotionale Verbundenheit bestehe. Der Kleine war sechs Jahre alt zu dem Zeitpunkt. Außerdem wurde meinem Mann geraten, die Hochzeit (die gar nicht geplant war zu dem Zeitpunkt) erst mal zurückzustellen und abzuwarten.
„Was sagt man in dem Moment zu einer Frau, von deren Urteil und Wohlwollen die Zukunft deiner Familie abhängt?“ -
Eben. Nichts. Die ganze Rückfahrt habe ich leise geweint, während das Kind auf dem Rücksitz schlief. Im Nachhinein erzählte uns unser Sohn dann, dass die Frau ihm erzählt habe, sein Vater würde ihn so gerne kennenlernen und sie habe alles versucht, die Termine so hintereinanderzulegen, dass sie sich treffen könnten. Ich möchte an der Stelle kein Wort zu viel über den leiblichen Vater verlieren, denn er war einfach noch nie präsent.
Beim Gerichtstermin hatte man sich gemeinsam mit dem leiblichen Vater geeinigt, dass man ein Zusammentreffen vermeiden wollte, um den Jungen nicht noch mehr zu traumatisieren, nachdem kürzlich erst die leibliche Mutter verstorben war. Deshalb sollte ich mit ihm später zu Gericht kommen und in einem separaten Raum warten. Als wir zusammen an der Schleuse standen und ich meine Tasche ausleeren musste – ich hatte sehr viele Knabbereien, Kuscheltiere, Taschentücher und Spielsachen dabei –, kam die Sozialpädagogin auf Simon zu, forderte ihn unbemerkt von mir auf, durch den Metalldetektor zu kommen, und nahm seine Hand.
Ich rief selbstverständlich hinterher, dass sie bitte stehen bleiben sollte, dass er warten sollte, und bat die Beamt*innen eindringlich, mich doch (auch gerne ohne meine Tasche) durch die Schleuse zu dem Kind zu lassen. Ich war fassungslos. Hilflos. Verzweifelt. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die vermutlich nur 30 Sekunden lang war, durfte ich durch, rannte den beiden hinterher und versuchte, keine Panik auszustrahlen. Sie verabschiedete sich in dem Moment, in dem ich da war, und Simon erzählte mir, dass sein leiblicher Vater im Nebenzimmer sei und er ihn kennenlernen könnte.
Ich weinte leise und versuchte es ihm zu verheimlichen. Ich hatte versagt. Ich hatte nicht auf den kleinen Jungen aufgepasst. Wie konnte das passieren? Später erfuhr ich, dass im Gerichtssaal noch andere Dinge gesagt wurden. Unter anderem, dass ich die Adoption meinem (jetzigen) Mann für immer vorwerfen würde und dass unsere Hochzeit (die nicht geplant war) sich verschieben würde. Zur Erinnerung: Seine Schwester war erst kürzlich verstorben. Wirklich niemand aus der Familie hatte Lust zu feiern. Nach langem Warten, viel Schriftverkehr und Wochen zwischen Hoffen und Bangen durfte er dann endlich den Kleinen adoptieren – ich noch nicht.
Erst nach unserer standesamtlichen Hochzeit durfte er es mir erlauben, auch die Adoption zu beantragen. Ich hatte so viel Angst vor dem, was da wieder auf uns zukommen würde, dass ich mich völlig selbst blockierte.
„Was, wenn in dem Prüfungsprozess jemand herausfinden sollte, dass ich gar keine gute Mutter bin?“ -
Nachdem die Zuständigkeiten des Jugendamts erneut unklar waren und wir insgesamt drei Sachbearbeiter*innen bei uns in der frisch geputzten Wohnung mit den selbst gebackenen Plätzchen begrüßen durften und Sorge hatten, ob jemand im Badezimmer-Unterschrank ein nicht ökologisches Putzmittel findet und uns deshalb für untauglich hält, bekamen wir nur gutes Feedback. Die letzte Sachbearbeiterin, die dann tatsächlich verantwortlich sein sollte, ließ sich dazu hinreißen zu schwärmen, es sei ja wie im Bilderbuch bei uns zuhause und auch die emotionale Verbundenheit sei spürbar.
Leider – und sie bedauere das selbst am meisten – habe sie ein Wochenende zuvor eine Fortbildung besucht und dort gelernt, dass die biologische Verbindung zwischen leiblichen Eltern und Kindern immer am besten sei und nie gekappt werden dürfe. Was das in meinem Adoptionsfall genau bedeuten sollte, war uns unklar. Die Richterin war erfreulicherweise aber furchtbar nett und verlangte, neben der Stellungnahme des Jugendamtes, nur noch ein Motivationsschreiben meinerseits mit der Frage, warum ich denn die Adoption wolle.
So einen Seelen-Striptease muss man dann erst mal zu Papier bringen. Und dieses gefühlt wichtigste Dokument des Lebens so schreiben, dass es gut, ehrlich und emotional, aber nicht zu emotional, überzeugend und nachdrücklich ist. Beim Vorlesen hat die Richterin geweint und zwei Tage vor unserer kirchlichen Trauung durften wir endlich sicher sein, dass uns den kleinen Jungen niemand mehr wegnehmen kann. Erst mal.
Die Angst in mir bleibt jedoch. Wenn mein Mann und ich zusammen im Flugzeug sitzen, denke ich, es wäre besser gewesen, zwei unterschiedliche Flüge zu buchen, damit wir im Falle eines Absturzes nicht beide sterben. Die Angst, dass er irgendwann seinen leiblichen Vater kennenlernen will und was dann passiert. Die Angst, dass er sich irgendwann nicht wie unser „richtiger“ Sohn fühlt oder uns nicht für seine „echten“ Eltern hält.
Habe ich deswegen vorgesorgt? Nein. Will ich dazu motivieren (auch mich selbst), sich damit auseinanderzusetzen? Auf jeden Fall. Immer wieder, wenn ich mit Leuten spreche, denken sie, eine Adoption wäre leicht, insbesondere wenn der Wunsch der Eltern testamentarisch verschriftlicht ist, oder dass die Taufpat*innen oder Großeltern das Kind automatisch bekommen.
Manche Menschen, die sich im Rahmen von Adoptionen oder ähnlichen Szenarien auf ihr Kind bewerben müssen, erleben einen bürokratischen, entmenschlichenden Irrsinn. Für sie kann es ein Kampf sein, sich als Eltern zu beweisen.
„Wer legt fest, was gute Eltern sind?“ -
Ich wurde getestet und für ausreichend gut befunden, trotzdem zweifle ich wie vermutlich jede andere Mutter mehrfach täglich an mir.
Am Ende bleibt festzuhalten, dass sich der schwierigste Kampf meines Lebens mehr als gelohnt hat und ich ihn jederzeit wieder kämpfen würde. Heute mit dem Wissen, dass seine leibliche Mutter stolz und glücklich wäre über den Sohn, den wir großgezogen haben, und die Liebe, die er bekommt und zurückgibt.
Und noch ein Tipp: Manchmal kann man nicht so lange da sein und alles sagen, was man sagen möchte. Legt Bücher, Videos oder Briefe an für eure Kinder, was auch immer euch liegt. Helft ihnen, sich an euch zu erinnern, und gebt ihnen einen Beweis für eure Liebe, den sie den Rest ihres Lebens immer wieder anschauen können. Außerdem gibt es die Möglichkeit, eine Sorgerechtsverfügung aufzusetzen, in der man einen Vormund für seine Kinder benennen kann, für den außergewöhnlichen Fall, dass beide Elternteile versterben. Andernfalls geht das Sorgerecht in der Regel auf den verbliebenen Elternteil über. Die Taufpatenschaft ist in jedem Fall rechtlich völlig irrelevant. Auch wenn man sich dieses Horrorszenario nicht vorstellen kann, ist es doch eine Erleichterung, wenn man vorgesorgt hat – rechtlich sowie mit liebevollen Botschaften, die für immer in Erinnerung bleiben werden.
Eure Iva
P.S.: Eine Sorgerechtsverfügung für die Kinder könnt direkt bei unserem Artikel „
Superordner” downloaden. Steffis Mann, der Anwalt, erklärt dort im Video, worauf zu achten ist.