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Vor ein paar Monaten hat unsere Autorin Saskia Niechzial erfahren, dass sie ADHS hat – genau, die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung, die viele nur im Zusammenhang mit kleinen Jungen kennen. In diesem Beitrag hat sie über ihren Weg zur Diagnose und ihre Symptome geschrieben. Im folgenden Text gibt sie uns ein Update, wie sie mit der Diagnose ihren Alltag meistert:
Es gibt Tage, da fällt es kaum auf. Da stehe ich auf und gleite durch den Tag. Fast so, als wäre gar nix.
Und dann gibt es Tage, die sind anders. Da steht mein Kopf irgendwie vor mir auf. Während der Rest von mir noch verzweifelt dabei ist, wenigstens die linke Socke zu finden. Fühlt sich ein bisschen so an wie in einem schlecht synchronisierten Film. Man versteht alles irgendwie, aber es ist irre anstrengend zu folgen.
Es ist 6.37 Uhr. Weckerklingeln. Es ist spät geworden heute Nacht. Wegen der Trinkflasche. Ich brauche nämlich eine neue. Also habe ich mich zweieinhalb Stunden hochkonzentriert durch Erfahrungsberichte, Materialtests, ökologische Aspekte und Angebote geklickt. Detailrecherche um Mitternacht. Sollte ich jemals meine Memoiren verfassen – so würden sie heißen. 6.38 Uhr. Ich blinzle und ahne schon. Das wird schwer heute. Snooze.
6.43 Uhr
Jup, es wird schwer. Snooze.
6.51 Uhr
Wirklich schwer. Snooze.
7.09 Uhr
Ich höre, dass mein Mann aufgestanden ist und unsere Kinder mit Frühstück versorgt. Der Morgen liegt überwiegend in seiner Hand. Wir haben schnell gemerkt, dass der Tagesstart nicht meine Stärke ist. Es gibt eine feste Struktur, das schon. Aber an Tagen wie heute ist mein Gehirn eher im Unbekannte-Trampelpfade-Modus. Ich zwinge mich aus dem Bett.
„Brotdosen vorbereiten. Das ist meine Aufgabe. Weil ich eine Aufgabe brauche.“ -
Gerade jetzt in der Elternzeit. Um mit dem Tag anzufangen.
7.45 Uhr
Die Kinder zur Kita und Schule verabschieden. Mit Kaffeetasse ins Bett setzen. Das Baby spielt mit der Sockenschublade. Heute habe ich einen Frisör:innentermin. Um 9.00 Uhr. Vorher möchte ich unsere Bettwäsche in den Waschsalon bringen. Noch eine knappe Stunde Zeit. Termine sind hilfreich. Müssen ist hilfreich. Ich schaffe es irgendwie, mich anzuziehen und die Zähne zu putzen, während mein Gehirn gleichzeitig damit beschäftigt ist, die Weltformel zu überdenken.
8.40 Uhr
Ich habe die Wäsche und das Geld. Ich bin etwas zu spät. Ich düse los in Richtung Waschsalon. Dort angekommen, stehe ich vor dem Bezahlautomaten. Nur Scheine bis 10 Euro. Mist, mein Mann hatte es erwähnt. Okay, Geld wechseln. In diesem Moment fällt mir auf, dass ich das Waschmittel vergessen habe. Also gegenüber in die Drogerie. So krieg ich auch den Schein kleiner. Ich schnappe mir eine Packung unseres Waschmittels. Und bezahle an der Kasse mit – kurzer Cliffhanger – Karte. Natürlich. Der ursprüngliche Plan war mir schon wieder entfallen. Verdammt. Also, noch mal. Dann eben noch Weichspüler. Ich bezahle diesmal mit Bargeld und bekomme zwei Zwanzigerscheine zurück. Erst im Waschsalon wird mir auffallen, dass auch diese Scheine noch immer zu groß sind. Es ist 8.54 Uhr.
Ich gebe auf und spurte mit der Wäsche nach Hause, stelle sie in den Hausflur und schreibe dem Mann, der mit Baby im Homeoffice sitzt: „War chaotisch. Erzähl ich später. Du die Wäsche? Ich hol sie später dann raus. Danke.“ Immerhin schreibe ich nicht mehr seitenweise Romane mit erfundenen Ausreden oder ausführlichsten Detailerklärungen schiefgelaufener Situationen. Es sind kleine Fortschritte. „Kein Problem“, bekomme ich als Antwort.
9.05 Uhr
„Entschuldige!“ Ich falle in den Frisör:innensalon. Meine Frisörin kennt mich. Und sie kennt auch meine Diagnosen. Sie weiß, wie schwer es mir fallen wird, in den kommenden zwei Stunden ruhig zu sitzen. Sie wird immer wieder sanft meinen Kopf in Position bringen, kurz die Schere hochnehmen, wenn ich wieder gestikuliere, und sie wird Small Talk vermeiden. Sie stellt mir richtige Fragen. Welche mit Tiefe. Oder zu meinem Fach. Und dann lässt sie mich reden. Lacht über meine detailreichen Anekdoten. Irgendwann beginnt mein Bauch zu grummeln. Ich habe vergessen zu frühstücken.
11.39 Uhr
Der Mann verabschiedet sich ins Büro. Ich übernehme das Baby. Und versuche in den weiteren Tag zu finden. Der Termin hat mich aus der Routine geworfen. Der Übergang fällt mir schwer. Was jetzt zuerst? Ich muss E-Mails beantworten. Und da warten seit Tagen WhatsApp-Nachrichten. Die Blumen auf dem Balkon lassen die Köpfe hängen. Projektabsprachen warten. Ich könnte mal wieder saugen. Schwimmsachen packen für später. Super, hat mein Mann schon gemacht. Spülmaschine auch.
Ich laufe eine Weile ziel- und entscheidungslos durch die Wohnung, das Baby auf meinem Arm. Ich fühle mich komisch. Verdammt, ich habe noch immer nichts im Magen. Gut, dann jetzt erst mal Mittagessen kochen für mich und die Kleine.
13.01 Uhr
Gegessen, das Baby gewickelt, bespielt und jetzt im Tragetuch verstaut. Ich tigere durch die Wohnung und springe durch meine Aufgaben. Eins nach dem anderen schaffe ich heute nicht, aber trotzdem bringe ich das meiste zu Ende. Sogar die Balkonblumen. In diesem Moment meldet sich mein Handyalarm. Das älteste Kind hat gleich Schulschluss. Auch nach Monaten brauche ich noch immer diese Erinnerung. Die Mittlere vorher aus dem Kindergarten abholen. Das Baby muss noch mal gewickelt und angezogen werden. Hatte ich gestillt? Wo sind noch mal die Sachen für den Schwimmkurs? Die Wäsche im Waschsalon. Komplett vergessen. Das schaffe ich jetzt nicht mehr.
Die Abfolge türmt sich vor meinen Augen zu einem Berg auf. Fast unbezwingbar. Überforderung droht. Fluchtgedanken melden sich. Alles in mir möchte vermeiden und absagen für heute. Dann höre ich die Stimme meiner Therapeutin:
„„Einen Schritt. Luft holen. Der nächste Schritt. Luft holen. Und jeden Schritt laut mitsprechen.““ -
Ich schnappe Jacke und Mütze und ziehe das Baby an. Luft holen. Ich stelle die Schwimmtasche an die Haustür. Luft holen. Ich stille noch mal kurz. Luft holen. Nicht weiter vorausdenken. Nur der nächste Schritt. Ich ziehe Schuhe an. Luft holen. Ich werde ruhiger. „Was ist vermutlich das Schlimmste, das jetzt passieren könnte?“, höre ich wieder meine Therapeutin, „Sie könnten zu spät kommen? Gut, das ist nicht angenehm, aber auch kein Drama. Nichts, wofür es sich lohnt, den Tag hinzuschmeißen. Und jetzt weiter. Einen Schritt. Luft holen.“
16.41 Uhr
Ich schließe die Haustür auf. Und mein Blick fällt auf die Tasche mit Büchern, die seit einigen Tagen dort steht. Sie müssen in die Bücherei zurück. Ich ärgere mich über mich selbst. Immer wieder hatte mein Mann gefragt, ob er das machen soll. Immer wieder habe ich verneint. Ich wollte das selbst schaffen. Allein. Ein Anspruch, der leider noch immer tief sitzt und mir so oft im Weg steht.
Ich rufe meinen Mann an. Einer der wenigen Menschen, mit denen ich telefonieren kann: „Die blöde Büchertasche steht hier immer noch. Und die blöde Wäsche ist noch im Salon“, schimpfe ich los, „Alle werden erwachsen und ich stolpere noch immer von Tag zu Tag mit meinem Konfettikopf. Es nervt mich so, dass ich das alles nicht hinkriege.“ Dann Stille.
„Wart ihr beim Schwimmen?“, fragt mein Mann plötzlich. „Ja!“, sage ich. „Wie viele Kinder hast du mit nach Hause gebracht?“, fragt mein Mann. „Drei“, antworte ich. „Sind es unsere eigenen?“ „Ja!“, schmunzle ich. „Geht es ihnen gut?“, will mein Mann wissen. „Ich würde sagen ja. Wir hatten Eis.“ „Vollzählig, satt und zufrieden. Ist doch ne gute Quote!“, beschließt mein Mann. Ich lächle, als ich auflege. Und vergesse die nassen Badesachen draußen im Flur.
22.51 Uhr
Ich liege im Bett. Der Abend war ganz gut. Die meiste Zeit des Abendbrotes habe ich am Tisch gesessen. Wieder ein Fortschritt. Den Plan, im Bett nicht mehr aufs Handy zu schauen, habe ich für heute verworfen. Ich brauche einen Becherhalter für mein Fahrrad. Detailrecherche um Mitternacht.
Und solche Tage waren es, die mich immer wieder haben innehalten lassen. Könnte es vielleicht ... oder doch nicht? Im Nachhinein kann ich kaum glauben, dass ich so lange gezögert habe, mich an die Diagnostik zu wagen. Und jetzt, Monate später, eine wunderbare Therapeutin an der Seite, bleibt noch immer die nasse Wäsche zu lange in der Maschine, renne ich noch immer um den Esstisch, weil sitzen bleiben so langweilig ist, und vergesse ich, den Elternzettel zu unterschreiben. Aber so viel anderes gelingt schon. Und ich lerne, mir zu verzeihen. Denn am Ende hab ich doch ne gute Quote.
Fotos: Vidhya Schröder
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